Von Elisabeth Selbert lernen
Eine Kolumne von Doris Gutermuth
Die Statue auf dem Scheidemannplatz – Ort der Ehrung und Verneigung
Der Wunsch vieler engagierter Menschen in Kassel, unsere Ehrenbürgerin Elisabeth Selbert im öffentlichen Raum der Stadt sichtbar werden zu lassen, fand im Mai 2021 in der Skulptur „11 Frauen – 11 Jahrhunderte“ der US-amerikanischen Künstlerin Linda Cunningham am „Platz der 11 Frauen“ im Grünzug Motzberg eine erste Erfüllung. Mit der Statue der Kasseler Bildhauerin Karin Bormann-Roth ist Elisabeth Selbert auf Initiative der Frauen des gleichnamigen Soroptimist-International-Club Kassel wenige Monate später in der Mitte der Stadt angekommen.
Tatkräftig
Die lebensgroße Statue kommt ohne Sockel aus – sie steht auf dem Boden der Tatsachen und ermöglicht die Begegnung auf Augenhöhe. Will man die Hinweistafel lesen, die ihr zu Füßen in den Boden eingelassen ist, neigt man unwillkürlich den Kopf und verbleibt beim Lesen in einer Haltung, die einer Verneigung nahe kommt. Bedenkt man, unter welchen Bedingungen Elisabeth Selbert (*22. September 1896 in Kassel † 9. Juni 1986 ebd.) ihre schulische und akademische Laufbahn absolviert hat und wie ihr in entscheidenden Momenten des späteren beruflichen und politischen Lebens über ihre fachliche Expertise und standhafte Entschlossenheit hinaus auch Fortune zur Seite stand, erscheint die Verneigung in jeder Hinsicht angemessen.
Vorausschauend
Elisabeth Selbert erkannte den Wert der Bildung als Voraussetzung zur aktiven Mitgestaltung in der von Männern dominierten Gesellschaft. Nur weil ihr Mann, ein politisch aktiver Sozialdemokrat, die Bildungsabsichten seiner Frau akzeptierte und förderte, durfte die 30-jährige Mutter von zwei Kindern als sogenannte Externe ihr Abitur nachholen und das Jurastudium in Göttingen aufnehmen. Wenn Vorlesungen über Sexualdelikte stattfanden, musste die damals einzige Studentin der juristischen Fakultät auf Anordnung des Professors den Hörsaal verlassen.
Nur einen Tag bevor das Nazi-Regime 1934 per Gesetz Frauen den Eintritt in den Anwaltsberuf verwehrte, wurde der inzwischen promovierten Juristin mit SPD-Mitgliedschaft von zwei wohlmeinenden, älteren Richtern die Berufserlaubnis ausgehändigt. Während ihr Mann Berufsverbot erhielt, ernährte Elisabeth Selbert die Familie. Die ständige Bedrohung, von den Nazis liquidiert zu werden, endete für die Selberts fraglos erst im Jahr 1945.
Zielstrebig
Elisabeth Selbert wurde 1946 Hessische Landtagsabgeordnete, doch obwohl sie an der Hessischen Verfassung mitgeschrieben hatte, wurde sie 1948 nicht von ihrer Partei, sondern erst mit der Unterstützung von Frauenverbänden vom Land Niedersachsen für den Parlamentarischen Rat, die verfassungsgebende Versammlung in Bonn, nominiert. Dort sollte sie als eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“ deutsche Geschichte schreiben. Dank ihres kämpferischen Engagements und einer landesweiten Kampagne, mit der sie viele Frauen für die Durchsetzung der Gleichberechtigung aktivieren konnte, wurde nach zähem Ringen Artikel 3 Absatz 2 – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – in das Grundgesetz aufgenommen.
Zukunftsweisend
Elisabeth Selbert erhielt für ihre Verdienste um die Mitwirkung am Grundgesetz bedeutende Ehrungen. Orden, Medaille und Wappenring liegen in dunklen Schatullen und geraten in Vergessenheit. Gedenktafeln, Straßenschilder und öffentliche Gebäude, die ihren Namen tragen, halten ihr Lebenswerk bundesweit in Erinnerung. Die Statue auf dem Scheidemannplatz ist noch nicht als politischer Treffpunkt entdeckt worden. Anlässe zur Begegnung mit Elisabeth Selbert auf Augenhöhe gäbe es wahrlich genug!
Autorin:
Doris Gutermuth, Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin, studierte Kunst bei Karl Oskar Blase, arbeitet als Psychotherapeutin und Künstlerin in Kassel.
Auch zu lesen in der StadtZeit-Ausgabe 121, Herbst 2024
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