„1974“
Als die DDR einmal die BRD besiegte: Roland Rengs Volltreffer ist ein „Muss“, nicht nur für Fußball-Fans – eine Hommage.
Lieber Ronald Reng,
Was kann Fußball alles sein? „Mehr als alles!“, möchte man anhand ihres Rückblickes ausrufen!
Ihr vielstimmiger Chor der 1970er Jahre, mit dem Fokus auf die WM 1974 und das mit 0:1 verlorengegangene Prestige-Duell der beiden deutschen Staaten, hat mich gefesselt.
Auf beeindruckende Art und Weise verknüpfen Sie die deutschen Befindlichkeiten im Fußball, in der Politik, im sozialen und kulturellen Erleben und „Erleiden“ in diesen Jahren.
Sie leuchten dieses Jahrzehnt so gekonnt aus, dass mit und aus den unterschiedlichsten Perspektiven ein grandioses gesellschaftspolitisches Panorama der 1970er Jahre (Fußball, Terrorismus, Entspannungspolitik Willy Brandts, Frauenrechte, Alltagsleben) entsteht.
Die Lektüre ist spannend und überraschend, ich selbst musste mich in meiner ansteigenden Begeisterung geradezu zwingen, langsamer zu lesen, um die vielen recherchierten Details würdigen zu können, im Besonderen die Kardinalsfrage: Geha oder Pelikan?
Zeitgeschichte ist so nicht nur für diejenigen lebendig, die in diesen Jahren schon mitten im Leben standen, sondern auch für die Nachgeborenen.
Ihr Blick auf die Entwicklungen und Verwicklungen der handelnden Frauen und Männer in West und Ost ist aufklärerisch, kritisch-humanistisch, verstehend, manches Mal geradezu liebevoll, speziell in der Sicht auf die „Spielerfrau“ Jutta Hölzenbein und ihren kürzlich verstorbenen Mann Bernd.
Außerdem ist „1974“ eine Fundgrube für den schulischen Unterricht, denn hier sind die subjektiven Lebenswege in Ost und West differenziert, konkret und klar mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten verflochten, und das eben nicht aus Sicht der „großen Politik“, sondern aus der Sicht so vieler handelnder und „behandelter“ Personen.
Ich denke, dass „1974“ damit auch jenseits der herrschenden Ideologiediskussionen zum Verstehen des sozialen, kulturellen, politischen und sportlichen Systems der ehemaligen DDR beiträgt.
Die überraschendste Nebenwirkung von „1974“ liegt jedoch darin, dass niemand dieses Buch liest, ohne Bezüge zu seiner eigenen Biografie herzustellen, ohne gepackt zu sein vom Erinnern, Nachspüren, Nachdenken über die Fragen:
Wo war ich eigentlich in den 70er Jahren? Was hat mich bewegt, begeistert, geängstigt? Wie eingeschränkt war meine Sicht auf das, was passierte? Wie weit war ich Teil des Geschehens? Handelnder? Mitläufer? Zuschauer? Aussteiger?
In mir hat „1974“ jedenfalls einen Selbstreflexionsprozess ausgelöst, sowohl darüber, wie meine Fußballkarriere verlaufen ist, als auch darüber, wer mein Leben in diesen Jahren gestaltet hat und ich empfinde diesen Prozess bereichernd und versöhnend.
Und plötzlich tauchte auch wieder die Erinnerung an jene lange Nacht in der Schlange der Fußballfans vor dem DER-Reisebüro unweit des Eschenheimer Tors in Frankfurt auf, in der es galt, nach der Öffnung am Morgen erfolgreich zwei Karten für das WM-Endspiel 1974 in München zu ergattern.
Lieber Ronald Reng,
danke für ihre immense Recherche, die lebendige, verständliche Gestaltung des Gefundenen, die Sympathie für die Menschen in Ost und West und ihren flüssigen Schreibstil.
Und zu guter Letzt: Meine Schreibwerkzeuge waren natürlich von Pelikan, Geha ging gar nicht!
Herzliche Grüße aus Kassel
Georg Martin
Fotos: Piper Verlag
Autorenfotos: Peter von Felbert
01.07.2024
Text:
Georg Martin
Fotos: Piper Verlag
Autorenfotos: Peter von Felbert