Ein Traum vor 70 Jahren…
Von Wolfgang Matthäus
Der Vordere Westen als „ideales Regierungsviertel“.
Der Bundestag in der Stadthalle, Sitzungen des Bundesrats in der Aula der Heinrich-Schütz-Schule, der Bundespräsident in der Villa Locomuna, Kanzleramt und Ministerien im „Generalkommando“ und im Roten-Kreuz-Krankenhaus, Abgeordneten- und Besucherunterkünfte im Aschrottheim und der Jugendherberge: der Vordere Westen als vorläufiges Regierungsviertel des zu gründenden Provisoriums Bundesrepublik Deutschland. Das war der Vorschlag, den die Stadt Kassel 1948 dem Parlamentarischen Rat machte, als dieser über den vorläufigen Sitz der Bundesorgane zu entscheiden hatte.
Die Initiative, Kassel als vorläufige Hauptstadt vorzuschlagen, war von Elisabeth Selbert ausgegangen und der Kasseler SPD aufgegriffen worden. In aus heutiger Sicht atemberaubender Geschwindigkeit beschloss der Magistrat am 2. November 1948, damit einverstanden zu sein, „dass Kassel mit der Genehmigung des Parlamentarischen Rates zum Sitz der Bundesregierung ernannt wird“, und erarbeitete am 7./8. November eine Denkschrift zur Bewerbung, die er bereits zwei Tage später dem Parlamentarischen Rat in Bonn überbrachte. Eine in weiten Teilen zerstörte Stadt ging ins Rennen mit Bonn, Frankfurt und zeitweise auch Stuttgart. Was waren die Motive?
Mit Ausnahme der KPD, die die Gründung des Weststaates bekämpfte, standen alle Parteien, Wirtschaftsverbände und auch die große Mehrheit der Stadtgesellschaft hinter der Bewerbung. Die Ernennung zur Hauptstadt sollte der Impuls sein, durch bundesstaatliche Förderung mit einem Schlag aus dem Dilemma von Zerstörung und Wohnungsnot, Demontage und dem Verlust von Arbeitsplätzen, der zentralen Lage und zentraler Behörden herauszukommen. Oberbürgermeister Willi Seidel sah die Folgen einer erfolgreichen Bewerbung so: „Es ist keine Phantasterei, wenn man behauptet, dass dann ein wirtschaftlicher und kultureller Aufstieg von ungeahnten Ausmaßen beginnen wird. (…) Hier bietet sich die einmalige Gelegenheit, dass sich die Stadt mit Unterstützung von außen her wieder zu ihrer früheren Höhe entwickelt.“
„Außerordentlich negativ beeindruckt“
Gegenüber dem Parlamentarischen Rat warb Kassel vor allem mit den Vorzügen seiner zentralen Lage und dem Westen der Stadt. Der stellte mit seinen unzerstörten Gebäuden aus der Sicht von OB Seidel ein „ideales Regierungsviertel“ dar, in dem sich die Bundesorgane in „Kinderwagenentfernung“ voneinander unterbringen ließen. Nicht zuletzt betonte man, dass Kassel sich als „Zwischenlösung“ betrachte und jederzeit wieder bereitwillig hinter Berlin zurücktreten würde.
Die Bewerbung Kassels war wohl von Anfang an aussichtslos. Zu sehr fehlte es der Stadt an Unterstützung. Die hessische Landesregierung machte sich für Frankfurt stark, aus dem einflussreichen Büro der Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen kam nach einem Besuch von Vertretern des Parlamentarischen Rates im Dezember 1948 die Mitteilung, diese seien „außerordentlich negativ beeindruckt“. Am 10. Mai 1949 siegte Bonn im Zweikampf mit Frankfurt.
Oberbürgermeister Seidel stellt bei einem Pressetermin die Bewerbung vor. Zu erkennen: Generalkommando, Heinrich-Schütz-Schule und Stadthalle.
Bonn-Frankfurt: Städteringkampf im Freistil.
war langjähriger Leiter der WERKSTATT GESCHICHTE an der Albert-Schweitzer-Schule
Kassel. Veröffentlichungen zur Lokalgeschichte, u. a. „Der Traum von der Hauptstadt“ (2004).