Strandspaziergang zu Silvester
Frische Luft genießen, den Wind in den Dünen spüren und eine Nachtwanderung durchs Wattenmeer – so könnte man ins neue Jahr starten.
In Japan gibt es den Brauch, am Neujahrsmorgen mit der aufgehenden Sonne ins neue Jahr zu starten, und der erste Sonnenaufgang des Jahres wird sogar live im Fernsehen übertragen. Ich finde, das Jahr gemeinsam mit der Sonne zu beginnen, ist ein schöner Gedanke und auch etwas, was man jeden Tag für einen Neuanfang nutzen könnte. Genauso könnte man das alte Jahr auch mit einem Sonnenuntergang verabschieden.
Abschied am Abend
Mein abenteuerlichster Abschied vom alten Jahr begann mit einem Sonnenuntergang. Mein Freund und ich waren auf einer Reise in Dänemark. Es war der letzte Tag des Jahres und wir befanden uns auf der Insel Fanö. Eigentlich planten wir nur einen Tagesausflug auf die längliche Insel in der Nordsee. Sie liegt so nah an der Küste Dänemarks, dass wir mit der Fähre, die mehrmals täglich von der Stadt Esbjerg abfährt, nur zwölf Minuten dahin brauchten. Wir erreichten den Hafen in Norby, eines der kleinen Dörfer im nördlichen Teil von Fanö. In dem Dorf reihten sich Häuser mit Strohdächern aneinander, die aussahen wie in einem Märchen. Mit langen Halmen bewachsene Dünen bedecken einen großen Teil der Insel. Von der nördlichen bis zur westlichen Seite der Küste erstreckt sich ein Streifen Sandstrand. Eingepackt in warme und wetterfeste Kleidung spazierten viele Menschen entlang des Wattenmeeres. Einige Kinder ließen bunte Drachen gen Himmel steigen. Die Sonne näherte sich dem Horizont und das Wasser hatte sich zurückgezogen.
Ebbe
Das Watt war mit einer hauchdünnen Wasserschicht überzogen und reflektierte das Licht, als die Sonne im Meer unterging. Ich atmete die salzige Luft ein und rannte durch das das seichte Wasser, welches unter meinen Schuhen zu allen Seiten spritzte. Währenddessen wechselte der Himmel über mir und mit ihm die Spiegelung im Wasser die Farben: Von Gelblich zu Orange zu Rot, Rosa, Violett. Auf dem schlammigen Boden waren Muscheln, Algen und Spuren von Wattwürmern. Es wurde immer dunkler und ehe wir uns versahen, wurde es Nacht und die ersten Sterne waren am Himmel zu sehen.
Da wir schon über zwei Stunden gelaufen waren, entschieden wir uns dazu weiterzugehen, anstatt den ganzen Weg durch den Sand zurückzulaufen.
Flut
Ich fröstelte, es wurde zunehmend kälter und wir beschleunigten unsere Schritte, um uns warmzuhalten. Der Mond schien hell genug um den Weg vor uns zu erahnen. Die Akkustand unserer Handys war niedrig, weil wir zuvor Fotos damit gemacht hatten. Wir liefen weiterhin am Sand entlang, zu unserer rechten Seite war irgendwo in der Ferne das Meer und zu unserer linken Seite waren Dünen. Zwischendurch liefen wir durch größere Pfützen und ich begann mir
Sorgen zu machen, dass unerwartet die Flut kommt und wir zu nah am Wasser laufen. Plötzlich sahen wir etwas Großes, Dunkles vor uns auf dem Sand. Bei näherem Hinschauen erkannten wir, dass es sich um einen toten Seehund handelte. Im Wattenmeer gibt es viele Seehunde, die gerne in Rudeln auf Sandbänken in der Sonne liegen. Schade, dass dieser das nicht mehr konnte.
Das nächtliche Dorf
Wir waren schon lange vom Sandweg abgekommen und liefen durch die Dünen, als wir vor uns Licht sahen. Erleichtert erreichten wir das kleine Fischerdorf Sönderho, an der Südspitze der Insel. Wir liefen eine kleine Runde durch die ruhige Gegend. Die Laternen beleuchteten die Häuser mit ihren Strohdächern. Die Menschen schienen entweder alle unterwegs zu sein oder schliefen bereits. Langsam meldete sich der Hunger bei uns, wir setzten uns auf eine Bank und aßen unsere Müsliriegel. Bei Tageslicht war das Dorf bestimmt noch viel schöner. Aber wir konnten dort nicht bleiben, wir mussten eine Fähre kriegen. Die letzte Fähre fuhr um kurz vor Mitternacht von Nordby, wo wir herkamen. Mein Handy hatte gerade noch genug Akku, um uns die Wegführung dahin anzuzeigen. Bis zum Fährhafen hatten wir, wenn die Zeitangabe stimmte, noch einen zweiein-halb-stündigen Fußweg vor uns. Diesmal liefen wir über den asphaltierten Weg, der neben der Autostraße zum Norden der Insel führte.
Die vorletzte Fähre
Ich fühlte mich erschöpft, deshalb waren vor allem die letzten Kilometer eine Herausforderung. Schließlich erreichten wir den Fährhafen. Außer uns warteten nur eine Handvoll Menschen auf die vorletzte Fähre des Jahres. Auf der Fähre ließ ich mich glücklich auf den Sitz des Schiffes sinken. Auf der anderen Küstenseite stiegen schon die ersten Feuerwerke zum Himmel und so endete mein Abschied vom alten Jahr.
02.01.2023
Text und Illustrationen:
Maria Bisalieva
Auch zu lesen im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 113, Dezember/Januar 2022/23
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