Von Lucius Burckhardt lernen
Eine Kolumne von Doris Gutermuth
Die Wirkung des Unsichtbaren im öffentlichen Raum.
Lucius Burckhardt gibt mit seiner Spaziergangswissenschaft den Menschen eine kulturwissenschaftliche und ästhetische Methode an die Hand, aus festgefügten, gewohnten Denkrahmen herauszutreten, um mit wachsender Bewusstwerdung die Wahrnehmung der Umwelt zu erweitern. Seine Promenadologie regt an, aufzustehen, die Füße zu gebrauchen, den Spaziergang nach draußen zu wagen und im Schauen auf das, was einen umgibt, das Betrachten wiederzuentdecken.
Das Unsichtbare sehen
Der Mensch, der promeniert, nur mal so dahinschlendert, gar lustwandelt, ändert seine herkömmlichen Perspektiven, wagt den unverstellten Blick und probiert neue Sehweisen aus. Plötzlich reibt er sich die Augen, weil er in einer vertrauten Umgebung ungewöhnliche, überraschende, auch verstörende Dinge sieht, die er zuvor so noch nicht gesehen hat.
Die Umgebung wird vieldeutig, der Raum wird zum unbekannten, unerforschten Gegenstand der eigenen Wahrnehmung; neue Zusammenhänge erschließen sich, ungeahnte Gedankengänge sind möglich. Das Unsichtbare wird auf eigentümliche Weise sichtbar.
Das Spazierengehen in der Kasseler Innenstadt kann ein Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang sein. Geht man beispielsweise los, um sich den weltberühmten documenta Außenkunstwerken in promenadologischer Betrachtungsweise auszusetzen, ist eine thematisch einstimmende Achtsamkeitsintervention im Sinne Lucius Burckhardts anzuraten, beispielsweise mit dem kunsthistorischen Ansatz, die documenta habe der geschundenen, kriegszerstörten Stadt geholfen, sich zu regenerieren. Im Kopf entsteht ein Bild von Kassel als ausgezehrtem, schmerzgekrümmtem Körper mit
fehlenden Gliedmaßen, klaffenden Wunden und ungezählten Knochenbrüchen.
Das Unsichtbare verstehen
Der Friedrichsplatz ist jener Ort, an dem Aufmärsche der Nationalsozialisten abgehalten und nach der Bombennacht vom 22. Oktober 1943 unzählige Todesopfer abgelegt wurden. Dies alles ist für das Auge unsichtbar und nur in unserer Vorstellung vorhanden. Auch „Der vertikale Erdkilometer“ von Walter De Maria, der seit der documenta 6 für immer zum Friedrichsplatz gehört, ist unsichtbar und doch in unserer Gedankenwelt präsent. De Maria sagte im documenta-Jahr 1977 mit zeitloser Eindringlichkeit: „Der senkrechte Erdkilometer soll die Menschen dazu anregen, über die Erde und ihren Ort im Universum nachzudenken.“
Der vertikale Erdkilometer bohrte sich tief in die Erde und in unser kollektives Gedächtnis. Dort wirkt er wie ein Stabilisierungsnagel in einem gebrochenen Knochen. In diesem Sinne ist Walter de Marias Kunstwerk auch eine mahnende Erinnerung an den Zivilisationsbruch in Zeiten des Nazi-Terrors.
Lucius Burckhardt lehrte uns, die Dinge anders zu sehen, ihre Wirkung auf uns bewusst wahrzunehmen. So betrachtet wirkt das documenta Kunstwerk „Man Walking to the Sky“ von Jonathan Borofsky auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs wie eine gut platzierte Akupunkturnadel gegen einen Dauerschmerz, dessen Ursachen zu ergründen eine nicht enden wollende Aufgabe bleibt.
Autorin:
Doris Gutermuth, Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin, studierte Kunst bei Karl Oskar Blase, arbeitet als Psychotherapeutin und Künstlerin in Kassel.
Auch in der Ausgabe 119, Frühjahr 2024
>> hier zu lesen