Von der Fußgängerunterführung an der „Trompete“ lernen
Eine Kolumne von Doris Gutermuth
Gestaltungsidee für ein autogerechtes Baudenkmal im Kasseler Fußverkehrskonzept 2030.
Der Verkehrsentwicklungsplan der Stadt Kassel 2030 folgt dem zukunftsweisenden Leitgedanken, der Verkehrssektor müsse einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Mit dieser Perspektive nahm man „die bestehenden Verkehrsräume der Stadt für alle Verkehrsarten unter die Lupe“. Mit der Betonung auf „alle“ rückte auch der Fußverkehr in den Vordergrund, der im historischen Kontext des autogerechten Wiederaufbaus der kriegszerstörten Stadt weithin als Nebensache galt.
Ideenreichtum
Das von der Stadt entwickelte Fußverkehrskonzept als Teil dieses Entwicklungsplans atmet dabei eine Kultur, wie sie nur in der documenta-Stadt entstehen und umgesetzt werden kann. Es animierte Bürgerinnen und Bürger, bei themen- und stadtteilbezogenen Spaziergängen „Kassel zu Fuß“ zu erkunden – die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt lässt grüßen. Beim „Ideenmelder“, der entlang acht vorstrukturierter Thesen zu Verbesserungsvorschlägen einlud, stand Joseph Beuys mit seinem Kunstverständnis, eigene Ideen als Gestaltungsausdruck einzubringen, allgegenwärtig Pate. Die Idee der Teilnahme und Teilhabe am Fußverkehrskonzept lässt zudem an jenen stadtgesellschaftlichen Aufbruch denken, wie er im Bewerbungsprozess zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010
mit dem Slogan „Kassel gewinnt“ spürbar war.
Gestaltungswille
Die Beispiele drastischer Fehlentscheidungen im städtischen Straßenverkehr sind zahlreich, doch das alleinige Lamentieren über den allzu autogerechten Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt führt zu Lähmungserscheinungen beim plastizierenden Denken Beuys‘scher Prägung. Im Rückblick auf die Situation der kriegsgeschundenen Überlebenden erscheint die Tatsache, dass damals überhaupt ein städtebauliches Konzept entwickelt und umgesetzt wurde, wie ein Wunder.
Krieg und Zivilisationsbruch in Zeiten des Naziterrors hatten ja weitaus mehr als nur Gebäude und ganze Stadtviertel samt ihrer Infrastruktur vernichtet. Der Wiederaufbau folgte den logistischen Notwendigkeiten einer gigantischen Großbaustelle, die in ihren unfassbaren Dimensionen auf keinerlei Vorerfahrungen zurückgreifen konnte. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, die an verschiedenen Standorten eingerichteten Fußgängerunterführungen im Kontext ihrer Entstehung zu bewerten. Spätere Entscheidungen, Unterführungen zuzuschütten und zu Fuß Gehende wieder ans Tageslicht des innerstädtischen Verkehrs zurückzuholen, führten unter Umständen zu einer Verbesserung der Aufenthalts- und Lebensqualität – aber lag darin nicht auch ein Akt des Zuschüttens von Stadtgeschichte?
Neuausrichtung
Zum Glück blieben einige Fußgängerunterführungen wie die große Tunnelanlage an der Straßenkreuzung Trompete verschont, weil sie an ihren Standorten markante Schutzfunktionen für zu Fuß Gehende erfüllen. Bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass sie als Baudenkmäler des Wiederaufbaus dauerhaft erhalten bleiben und sich im Fußverkehrskonzept des Verkehrsentwicklungsplans der Stadt Kassel fest positionieren können.
Die Zeit scheint reif für die Idee, im autogerechten Baudenkmal des documenta Jahres 1959, der Unterführung an der Trompete, Raum für eine temporäre Installation eines unterirdischen Zebrastreifens zu geben – mit den typischen
weißen Blockstreifen am Boden und korrespondierenden LED-Leuchtstreifen an der Decke. Ein Planungsentwurf mit Kostenanalyse für einen Teilbereich der Gesamtanlage liegt bereits vor. Die Stadt Kassel, die sich rühmt, im Jahr 1953 die erste Fußgängerzone in Deutschland erbaut zu haben, könnte mit einem weiteren städtebaulichen Ersteintrag punkten.
Autorin:
Doris Gutermuth, Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin, studierte Kunst bei Karl Oskar Blase, arbeitet als Psychotherapeutin und Künstlerin in Kassel.
Diesen Artikel auch zu lesen in der StadtZeit-Ausgabe 122, Winter 2024/2025
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