
Vom Mahnmal Aschrottbrunnen lernen
Eine Kolumne von Doris Gutermuth
Von der Wirkung des Verschwundenen – eine Erkundung.
Sehen
Dem Mahnmal Aschrottbrunnen am Rathausvorplatz, von Horst Hoheisel konzipiert und in Zusammenarbeit mit der Stadt Kassel realisiert, fehlt die Aura des Offensichtlichen. Hier erklärt sich nichts von selbst. Wer in Eile vorbeigeht, könnte meinen, hier wird demnächst gebaut. Doch Eile und flüchtiges Hinschauen verbieten sich bei der Begegnung mit einem Mahnmal. Was früher an diesem Ort stand und für immer verschwunden ist, wurde zum Prinzip: Gestalte das Verschwinden so, dass es für immer unvergessen bleibt!
Die verbliebenen Steinrudimente der Brunnenumrandung lassen Außergewöhnliches erahnen. Wer von den oberen Stufen der Rathaustreppe auf das Mahnmal blickt, erfasst die gesamte Umrandung, erkennt die Größe der Brunnenanlage insgesamt und bekommt eine Vorstellung von der Großzügigkeit ihres Stifters, des Unternehmers Siegmund Aschrott, der jüdischen Glaubens war. Hinweisschilder an der Rathauswand geben einen chronologischen Überblick und erklären die Gestaltwerdung dieses Verschwindens: Horst Hoheisel baute im Jahr 1987 die Pyramidenskulptur des Aschrottbrunnens aus gegossenem Beton nach und ließ sie kopfüber als „verlorene Form“ exakt an jener Stelle versenken, wo bis zum 9. April 1939 die originale Skulptur gestanden hatte.
Hören
Das Wasser des Brunnens findet seinen geschützten Weg. Es um fließt den Grundriss des alten Beckens in einem schmalen Kanal, der mit perforiertem Metall abgedeckt ist, das die Chronologie des Brunnens dokumentiert: „1908 Stifter Sigmund Aschrott“, „1939 Zerstörung“, „1943 Blumenbeet“. „1965 Rathausbrunnen“, „1987 Versenkter Aschrottbrunnen“, „2008 Hundert Jahre“, „2012 documenta 13 Collaps and Recovery“ (Zusammenbruch und Neubeginn), „Zeit“.
Von dort führen acht Rinnen in das Zentrum des Mahnmals, wo das Wasser unter begehbaren Metallgittern zwölf Meter tief in das Innere der Pyramide stürzt. Die Geräusche der Stadt, der Menschen in ihrer Geschäftigkeit, die hektische Betriebsamkeit des Verkehrs rücken in den Hintergrund. Über dem hinabstürzenden Wasser stehend kommt der Betrachter zum Innehalten. Die Zeit steht einen kurzen Augenblick still. Das Mahnmal wirkt. Es ist ein Ort, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Fühlen
Horst Hoheisel sagt: „Das eigentliche Denkmal ist der Passant, der darauf steht und darüber nachdenkt, weshalb hier etwas verloren ging“. Am 9. April 1939 wurde der Aschrottbrunnen durch national sozialistische Aktivisten zerstört. Die Stadtverwaltung ließ die Bruchstücke in Erwartung Adolf Hitlers zum „Ersten Großdeutschen Reichskriegstag“ bis auf die Sandsteinfassung abtragen. Das Verschwindenlassen war offenkundig von langer Hand geplant. Man wollte dem Führer bei seinem Besuch im Kasseler Rathaus nicht den Anblick des „Judenbrunnens“ zumuten.
Das Mahnmal Aschrottbrunnen wirkt wie ein Stachel in einer nie verheilenden Wunde. Der Schmerz über all das, was der Naziterroran Gewalt, Zerstörung, Massenmord und unfassbarem Leid verursacht hat, ist von bleibender Intensität. Horst Hoheisel steigt jeden Monat in den Brunnen hinab, um ihn zu reinigen. Die Wundversorgung ist ein niemals endender Prozess, denn der Stachel sitzt tief.
12.08.2025
Diesen Artikel auch zu lesen in der StadtZeit-Ausgabe 124, Frühjahr 2025, S.39
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