Globales Lernen in lokalen Zusammenhängen
Es gibt viele Fragen, die sich Menschen in ihrem Leben stellen und auf die sie vielleicht auch ein Leben lang Antworten suchen. Vielleicht werden manche Fragen hinfällig, neue Fragen kommen auf. Oder die Wege und Umgebungen verändern sich, von denen aus ich Ideen entwerfe, um die offenen Fragen zu beantworten. Ich stelle mir beispielsweise oft die Frage, wie eine Gesellschaft aussähe, in der es innergesellschaftliche und globale Ungleichheiten in Bezug auf finanzielles, ökologisches und soziales Wohlbefinden nicht in der gegenwärtigen Form gäbe. Eine Gesellschaft, in der die grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen weltweit erfüllt wären. Und damit meine ich neben existenziellen Bedürfnissen, wie Hauptsache täglich „satt“ auch weitere Bedürfnisse, wie die freie Entfaltung und Lebensgestaltung. Nun habe ich (akademisch, christlich, weiß,[1] trans, nichtbinär) leicht reden, denn ich bin, trotz mancher Probleme, an einem friedlichen Ort in Deutschland aufgewachsen. Ich konnte jeden Tag – und oft noch nicht mal gern – zur (Privat-) Schule und meinen Hobbys nachgehen. Wir waren immer mobil und jedes Jahr mindestens einmal im Urlaub. Medizinisch war ich mit all den Routineuntersuchungen, die ich jährlich über mich ergehen lassen durfte, bestens versorgt. Im Gegenzug dazu kein Dach über dem Kopf? Als Kind oder Jugendliche_r im Lohnarbeitssektor finanziell oder als Bedienstete_r in Privathaushalten sexuell ausgebeutet? Zwar wusste ich von den Problemen, hatte aber genug Sicherheit, um mir keine Sorgen machen zu müssen, jemals betroffen zu sein. Und auch darüber, wie Menschen in Deutschland und anderen Ländern des Globalen Nordens von den Profitzwängen kapitalgesellschaftlicher Unternehmen, auf dem Rücken ausgebeuteter Arbeitskräfte im Globalen Süden, profitieren, habe ich mir nicht den Kopf zerbrochen. Was ich einmalig erinnere: klassistische Abwertung im Kleinen. In der Schule wurde ich von meiner Lehrkraft vor der gesamten Klasse schräg beurteilt, weil die H-Milch zu Hause von Aldi war statt von Naturkost. Die Erfahrung war unangenehm und prägte sich bei mir ein. Später stellte ich mir die Frage, wie Menschen mit derselben Einstellung wie die Lehrkraft wohl klassistisch benachteiligte Menschen beurteilten, die sich gleichzeitig keine Privatschule oder sonstige Privilegien leisten konnten. Ich fragte mich, wie sehr klassistisch benachteiligte Menschen im Gesamten mit Abwertungen und Anfeindungen konfrontiert sind und wie ich mich engagieren könnte.
Erst noch später hatte ich die Möglichkeit, meinen Lebensweg so zu gestalten, dass ich Zufriedenheit und Sinnstiftung fand, in dem was ich tue. Und seit Mitte April dieses Jahr, bin ich schlussendlich beim Verein Karibu Kassel e.V. mit einer kleinen Stelle, als Bildungsreferent_in, angestellt.
Der an den Welt- und Regionalladen für fair gehandelte Produkte angegliederte Verein, richtet den Fokus auf Angebote im Bereich Globales Lernen und der politischen Öffentlichkeits- und Kampagnenarbeit. Wenn Menschen Welt- und Regionalläden kennen, dann oft als Fachgeschäfte für Produkte, deren Bilanz für Umwelt-, Lebens- und Arbeitsbedingungen beim An- und Abbau, auf dem Lieferweg und im Handel überprüft und, bei entsprechenden Standards, zertifiziert werden. Produkte also, die unter gerechteren Bedingungen für die beteiligten Menschen im Globalen Süden produziert werden als herkömmliche Produkte auf dem Markt. Dass Weltläden aber Anfang der 70er Jahre von ehrenamtlich tätigen Menschen zum Zweck der Bildungsarbeit gegründet wurden, ist weniger bekannt.
Beim Karibu Verein wurde die Bildungsarbeit konzeptionell und in der Durchführung bisher ausschließlich von einer kleinen, sehr engagierten Gruppe ehrenamtlich tätiger Menschen getragen. Menschen, die sich aus ideellen Gründen freiwillig engagieren. Nun bin ich mit einer kleinen, bezahlten Stelle seit wenigen Wochen dabei. Von einigen Seiten aus dem Ehrenamtsteam habe ich die bedeutende Frage vernommen, wie wir mehr ehrenamtlich tätige Menschen für die Bildungsarbeit beim Karibu Verein gewinnen können. Und diesen Impuls aufgreifend, frage ich mich aktuell: wie begeistern und motivieren wir Menschen von jung bis alt, aus unterschiedlichen Lebenswelten und Lebenslagen und mit den verschiedensten Identitäten, die Bildungsarbeit bei Karibu kennenzulernen, den Lernort Weltladen für eigene Bildungsprozesse zu nutzen und sich gegebenenfalls darüber hinaus zu engagieren? Ich stelle mir ein stabiles, sich selbst gegenseitig tragendes Netz an Menschen vor, die Lust haben auf lebenslanges Lernen und (in)formelle Wissensvermittlung in den Bereichen Globales Lernen und Entwicklungspolitische Bildung. Konkret können das beispielsweise folgende Fragen sein, auf die wir Antworten vermitteln: „Was bedeutet es, wenn mein T-Shirt aus Indien oder mein Kaffee aus Nicaragua kommt? Und was bedeutet es für die Personen, die diese Gegenstände hergestellt haben? Wird meine Lebensweise durch koloniale Kontinuitäten und die Profitzwänge kapitalistischer Unternehmen überhaupt nur möglich? Wie hängen Naturzerstörungen und der Klimawandel mit den gegenwärtigen Ausbeutungsverhältnissen zusammen? Wie kann das Wissen um globale Zusammenhänge mich hier vor Ort zum Handeln bewegen, und zwar über individuelle Kaufentscheidungen von gerechter gehandelten Produkten hinaus?“ Klar ist, eine uneingeschränkt kapitalistische Wirtschaftsweise bedingt Besserstellung auf der einen und Gewalt und Ausbeutung auf der anderen Seite. Ist das nicht Anreiz, um bisher als gegeben Hingenommenes, Stück für Stück neu zu lernen und die sich eröffnenden Handlungsspielräume für gerechtere globale Zusammenhänge zu nutzen?
Mit meiner Stelle einher geht die Konzeption von Bildungsangeboten für ehrenamtlich tätige Multiplikator*innen, wodurch also ein Bereich des lebenslangen Lernens zumindest punktuell abgedeckt ist. Darüber hinaus bieten wir Workshops für Schulklassen, Auszubildende und Studierende an. Und in den Räumen des Karibu Welt- und Regionalladen soll ein Informationszentrum mit Literatur und weiteren Materialien entstehen, in dem sich die oben genannten Zielgruppen und alle, die Lust darauf haben, informieren können.
Ich bin gespannt auf die Veränderungen und alles, das in nächster Zeit entsteht und freue mich, von der einen oder dem anderen zu hören oder eine Mail zu bekommen. Dann also, wenn Du diesen Artikel liest, Dich angesprochen und eingeladen fühlst, mal hier reinzuschnuppern. Und das unabhängig davon, wie viel Wissen Du schon zu den angesprochenen Themen mitbringst oder wie viel gesellschaftliches Engagement Du bereits vorweisen kannst. Für lebenslanges Lernen kannst Du Dich jederzeit bewusst entscheiden. Der Prozess des Wissenserwerbs und Wissensaustauschs in fehlerfreundlichen Umgebungen und die gemeinsame Entwicklung individueller Handlungsspielräume sind erste Schritte der Veränderung im Kleinen, die wir am besten mit vielen Menschen gemeinsam beschreiten können.
[1] Die im Text unterstrichenen Begriffe werden in einem Glossar im Anhang erklärt.
Die Bildungsstelle im Rahmen des Projektes „Globales Lernen für Multiplikator_innen“ wird gefördert durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln von:
Text: Simoan Trautner
Karibu Kassel e. V.
www.karibu-kassel.de
bildung@karibu-kassel.de
Glossar
fair
der Begriff kommt aus dem Englischen. Im fairen Handel werden mit dem Begriff Produkte bezeichnet, deren Produktions-, Liefer- und Handelsbedingungen nach bestimmten sozialen und ökologischen Kriterien kontrolliert und bei entsprechender Einhaltung zertifiziert werden.
Globales Lernen
Globales Lernen zielt darauf, Menschen im Zeichen weltweiter Solidarität zum Handeln zu bewegen. Gefördert werden neben der Achtung verschiedener Kulturen, Lebensweisen und Weltsichten auch das Hinterfragen der eigenen Voraussetzungen und Positionen, um für gemeinsame Probleme zu lösen.
Globaler Süden/Norden
die Bezeichnungen sind nicht geographisch zu verstehen, sondern beschreiben verschiedene Positionen der globalen Ungleichheit. Globaler Süden beschreibt dabei die Position gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich benachteiligter Staaten. Globaler Norden steht im Gegenzug dazu für Staaten, die wirtschaftlich, politisch und sozial einflussreich positioniert sind.
Identität
beschreibt das eigene Sein im Verlauf von wer ich war, wer ich heute bin und wer ich sein möchte. Die Identität bildet sich aus der Selbst- und Fremdwahrnehmung und der jeweiligen Entsprechung oder nicht Entsprechung der Perspektiven.
Klassismus
ist eine Form der Abwertung und des gesellschaftlichen Ausschlusses von Menschen und Gruppen, aufgrund der sozialen Herkunft und/oder der sozialen und finanziellen Lage.
Kolonialismus
bezeichnet die politischen Anstrengungen und die Ausübung von Herrschaft von Gemeinschaften über territoriale Gebiete, im Besitz anderer Gemeinschaften. Der kolonisierten Gemeinschaft werden grundlegende Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung genommen. Die Herrschaftsausübung wird mit einer angenommenen kulturellen Überlegenheit und dem Gedanken einer zivilisatorischen Mission gerechtfertigt.
nichtbinär
sind Menschen, die sich nicht immer vollständig und/oder ausschließlich als weiblich oder männlich identifizieren.
trans
sind Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (und nicht darin leben wollen).
weiß
der Begriff besagt, dass ich keinen Ausschluss aufgrund von Rassismus erlebe.