
Achtsam spazieren gehen
Kolumne zum achtsamen Sein
Von der Spaziergangswissenschaft und den neuen Blickwinkeln auf die eigene Umgebung.
Zu Fuß gehen ist eine wunderbare Art, um sich fortzubewegen. Es entspannt und sortiert den Kopf. Viele Menschen bevorzugen es, in der Natur, im Wald oder in Parks unterwegs zu sein. Mit dem achtsamen Spazieren durch die eigene Umgebung lässt sich diese mit neuen und unbekannten Blickwinkeln entdecken. Vertrautes bekommt neue Gesichter und regt zum bewussten Wahrnehmen an. In den 1980er Jahren hat Prof. Lucius Burckhardt, Schweizer Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme, die Spaziergangswissenschaft entwickelt, zu der reflexive Spaziergänge durch Stadt- und Landschaftsgebiete gehörten. Den sogenannten Urspaziergang sei
nes Ansatzes machte er zusammen mit seinen Kasseler Studieren den im Schlosspark Riede. Der Park liegt in Bad Emstal im Kasseler Landkreis und bot mit seiner abwechslungsreichen Gestaltung einen passenden Ort, um die eigene Umweltwahrnehmung zu beobachten und zu erweitern. Seine späteren Forschungen beschäftigten sich da von ausgehend mit den Auswirkungen unserer Wahrnehmung und der Mobilität auf das Planen und Bauen.
Sich von Lucius Burckhardt anregen lassen
„Mit der Spaziergangswissenschaft verbindet sich die Vorstellung, dass es eine fächerübergreifende Schnittmenge geben muss von Stadtplanung, Architektur, Kunstgeschichte, Design und Soziologie, die jede Wahrnehmung von Landschaft oder Stadtraum bestimmt und sich kritisch mit Urbanismus und Mobilität auseinandersetzt.“, erklärt Martin Schmitz, der an der Kunsthochschule Kassel seit 2016 die die „Annemarie & Lucius Burckhardt Professur“ innehat. Die Anregungen Burckhardts sind aktueller denn je, denn sie spielen in der Auseinandersetzung mit der technokratischen Planungsweise, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren maßgeblich zu autogerechten Städten beigetragen hat, eine wichtige Rolle. Denn „diese Verkehrssysteme sind nun an ihre Grenzen gestoßen.“, weiß Martin Schmitz und erklärt, wie die Spaziergangswissenschaft neue Blickwinkel bietet: „Gehen ist dabei die langsamste, einfachste und daher genaueste Methode, sich eine Umgebung, einen Raum zu erschließen. Und egal, wie oft ich durch ein Viertel schon gelaufen bin: Immer wieder entdecke ich neue Dinge. Ein Spaziergang ist in seiner Idealform völlig absichtslos. Wer spazieren geht, verfolgt kein konkretes Ziel. Bei Google Maps ist das anders.“
Achtsamer Forschergeist
Beim absichtslosen, zeitlosen, wahrnehmenden Spazierengehen, wer den die Aspekte von Achtsamkeit integriert. Wir sind ganz da und entdecken die Welt staunend mit einem unvoreingenommenen Forschergeist, auch Anfängergeist genannt. Ich selbst erlebe es immer wieder, wie viel Freude es macht auf diese Weise unterwegs zu sein. Entschleunigung, Entdeckungsfreude, Kreativität und sogar Stressbewältigung sind die Auswirkungen davon. Achtsames Schlendern, wie ein natürlicher Fluss der mäandert und hier und da langsamer wird. Zugegeben in der Naturlandschaft fällt es mir leichter auf diese Art
unterwegs zu sein.
Im Buch „Die Weisheit der Wildnis“ von Mark Coleman, einem psychotherapeutischen Natur-Meditationslehrer wird es einladend beschrie
ben: „Die Natur lädt uns ein, unsere Welt der festen Vorstellung und Begriffe zu verlassen und der Wirklichkeit näher zu kommen: Buddhisten nennen das ‚nichtkonzeptionelles Gewahrsein‘. Wenn wir nicht achtsam sind, kann intellektuelles Wissen leicht unsere direkten Erfahrungen überlagern. Nichtkonzeptuelles Gewahrsein ermöglicht eine frische und lebendige Begegnung mit jedem Augenblick. Diese Unmittelbarkeit kann zu großer Weisheit führen – und einem noch größeren Staunen über die Geheimnisse des Lebens: Vielleicht erkennen wir, wie wenig wir jemals wissen können.“ Würden wir der eigenen Stadt, dem eigenen Viertel oder der eigenen Straße auf diese Weise begegnen, gäbe es viel zu entdecken und zu bestaunen. Im Sinne der Spaziergangswissenschaften sind für die Zukunft Stadträume wünschenswert, die zum Verweilen und Spazierengehen einladen.
18.03.2025
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