
Die Bauwende schaffen!
Material, das an einem Ort nicht mehr gebraucht wird, lässt an anderer Stelle Neues entstehen. Zirkuläres Bauen spart Energie, schont endliche Ressourcen und würdigt die Schönheit des Vorhandenen.
Ein grauer Wintertag in Berlin. Dominik Campanella und Annabelle von Reutern nehmen ihr nächstes Projekt in Augenschein: Ein nüchternes Bürogebäude aus den 1970er-Jahren. Alle Schreibtische, Schränke und Grünpflanzen sind ausgeräumt. Demnächst soll der Komplex umgebaut werden, ein Teil wird abgerissen. Mit einem Lasermessgerät gehen sie durch verwaiste Treppenhäuser und Räume mit dunklem Teppich. Hier messen sie Fenster aus, beurteilen den Zustand der Heizkörper, zählen die Deckenleuchten. Diese Daten und Fotos geben sie in eine eigens dafür entwickelte Smartphone-App ein.“ Das ist der Einstieg in einen Text, der unter „Stories“ auf der Webseite der KfW Bankengruppe zu lesen ist und der sich dem Thema „Zirkuläres Bauen“ widmet.
Diese Form des Bauens lässt sich als ein Teil dessen begreifen, was seit einigen Jahren unter dem Stichwort „Kreislaufwirtschaft“, neudeutsch „Circular Economy“ Eingang in die Nachhaltigkeitsdiskussionen gefunden hat. Dass gerade die Bauwirtschaft dabei besonders im Fokus steht, kommt nicht von Ungefähr: Der Bausektor ist der größte Umweltverschmutzer der Welt. Die Herstellung von Baumaterial verbraucht enorme Ressourcen, während gleichzeitig viel weggeworfen und entsorgt wird. 60 Prozent des weltweiten Abfallaufkommens machen diese Materialien aus, wie der KfW-Text erläutert.
Löchrige Lieferketten umgehen
Nur ein Prozent des in Gebäuden verbauten Materials findet bislang seinen Weg in die Wiederverwendung; üblich und viel einfacher ist die Entsorgung. So landen beispielsweise große Mengen an Holz, Kunststoff, Fenstern und Fliesen im Müll, während andere Bauvorhaben dringend auf diese Baustoffe angewiesen sind, wie sich in Zeiten von „löchriger“ werdenden Lieferketten in einer globalisierten Ökonomie zeigt. Die verlässliche Verfügbarkeit von Material – auch wenn es sich dabei um wiederverwertes und entsprechend aufbereitetes handelt – ist also ein großer Vorteil.

„Fensterfriedhof“
Über die Materialsuchenden hinaus profitieren durch Zirkuläres Bauen auch Produzenten von Baumaterial. Sie können von ihnen hergestellte Baustoffe zurücknehmen, um sie einer Wieder- und Weiterverwertung zuzuführen. Ein Beispiel, welches der KfW-Text anführt, sind die in nahezu allen Gebäuden eingesetzten Gipskartonwände. Der bislang für diesen klimafreundlichen, leichten und brandsicheren Baustoff eingesetzte Gips, der für Wände, Estriche und als Putz verbaut wird, ist ein Nebenprodukt der Kohle-Verstromung. Gehen im Rahmen der für den Klimaschutz zwingend notwendigen Energiewende immer mehr Kohlekraftwerke vom Netz, fehlt ein wichtiger Baustoff, der sich durch Naturgips kaum ersetzen lässt, denn der Bedarf der Baubranche liegt bei zehn Millionen Tonnen pro Jahr.

Wichtiges Material im Innenausbau: Gipskartonplatten. Perspektivisch braucht es Alternativen.
Ein digitales Materiallager
Ein zentraler Punkt beim Zirkulären Bauen ist zweifellos, wie sich Angebot und Nachfrage zusammenbringen lassen. Die in der KfW-Story vorgestellten Gründer des Unternehmens „Concular“ machen sich dafür die Digitalisierung zunutze und legen über die von ihnen entwickelte App digitale Materiallager an. Dominik Campanell, einer der Mitbegründer, berichtet: „Wir digitalisieren den Bestand. Vieles kann vor dem Abriss ausgebaut werden, die genormten Fenster hier zum Beispiel sind erst ein paar Jahre alt und verlieren nur wenig an Wert. Wir bieten dieses gebrauchte Material mit einer entsprechenden Garantie auf dem Markt an.“
In einer Online-Datenbank sind die Baumaterialien eingepflegt und registrierte Nutzerinnen und Nutzer finden es im Bestand. Oder das System benachrichtigt sie, sobald das von ihnen benötigte Material eintrifft bzw. verfügbar wird.
So kann sich im digitalen Materialbestand ebenso der begehrte Designklassiker finden wie auch genormte Standardmaterialien wie Kunststofffenster, Rollos, Fensterbänke oder Bodenplatten.
Zum Zeitpunkt, an dem das Material angeboten wird, muss das jeweils gewünschte Bauteil noch gar nicht ausgebaut sein. Im Optimimalfall lässt sich durch die frühzeitige Vermarktung alles, was in einem Gebäude ausgebaut und wiederverwendet wird, direkt zur neuen Baustelle liefern, was wiederum Lager- und Transportkosten spart.
„Form follows Verfügbarkeit“
Die Klimaziele der Europäischen Union und der Koalitionsvertrag der Bundesregierung unterstützen das Umdenken in der Bauwirtschaft und bei Planerinnen und Planern. Für viele Bauvorhaben sind bereits jetzt detaillierte Nachhaltigkeitsberichte, sogenannte ESG-Reports, erforderlich, und manche Städte erteilen ohne eine zumutbare CO2-Bilanz keine Baugenehmigung. Second Hand wird auch dadurch aufgewertet, dass Circular Economy zum Standard in der EU wird. Die EU-Taxonomie sieht ab 2023 einen Anteil von 30 Prozent vor.
Jenseits ökonomischer und ökologischer Fragestellungen geht es beim Umgang mit dem Bestehenden auch um unser Verständnis von Baukultur, wie Annabelle von Reutern, ebenfalls Concular-Mirarbeiterin, überzeugt ist. Die gelernte Architektin vermisst den wertschätzenden Umgang mit dem Bestand. Viele der in den Jahrzehnten nach dem Krieg entstandenen Bauten würden einfach abgerissen. „Doch sie sind Teil der Baukultur und wir sollten sie bewahren.“ Ihr Ansatz, nachdem sie viele Jahre anders plante und baute: Ausschließlich bereits vorhandene Materialien sollten die Basis für die Planung und Umsetzung neuer Vorhaben bilden. Dafür „übersetzt“ sie den klassischen Slogan der Architekturmoderne so: „Form follows Verfügbarkeit“.
23.05.2022
Autor: Klaus Schaake
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 109, April/Mai 2022
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