„Die Kultur nachhaltig und langfristig stärken!“
StadtZeit-Gespräch mit Susanne Völker, Kulturdezernentin der Stadt Kassel zur Kulturkonzeption 2030.
Statt mit einer Kulturhauptstadt-Bewerbung für 2025 ein Strohfeuer abzubrennen, entschied sich die Stadt Kassel dafür, gemeinsam mit vielen Akteurinnen und Akteurinnen aus den Kulturszenen eine zukunftsfähige Kulturkonzeption zu erarbeiten. Mittlerweile sind ersten Umsetzungsschritte gemacht.
Frau Völker, warum hat sich Kassel auf den Weg gemacht, zusammen mit vielen kulturell engagierten Akteurinnen und Akteuren eine „Kulturkonzeption 2030“ zu erarbeiten?
Die Kulturkonzeption ist in der Stadtverordnetenversammlung Ende 2018 mit breiter Mehrheit beschlossen worden. Sie ist entstanden, weil eine Kulturhauptstadt-Bewerbung für das Jahr 2025 nach einem intensiven Prozess der Abwägung für Kassel nicht in Frage kam. Wir wollen stattdessen gemeinsam die Kultur nachhaltig und langfristig stärken – und nicht auf ein bestimmtes Ereignis fokussieren.
Welche Ausgangslage fanden Sie vor?
Schon zu Beginn des Prozesses haben wir einen erheblichen Verbesserungsbedarf insbesondere im Bereich der freien Szenen erkannt. Die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Kultur war nicht so stark ausgeprägt, wie das in den Workshops zur Erarbeitung der Kulturkonzeption als Wunsch auch deutlich wurde. Dasselbe gilt für die Finanzierung, gerade im Bereich der freien Kulturszenen. Ich spreche immer gerne von Szenen, weil es keine homogene freie Kulturszene gibt, sondern ganz unterschiedliche und vielfältige Bereiche, die wir mit der Kulturkonzeption stärken.
Wie sah die Beteiligung an diesem Prozess aus?
Es sind erfreulich viele Akteurinnen und Akteure auf den Plan getreten, die mit wirklich guten Impulsen und einem starken Gestaltungswillen in den Diskussionen und Themenwerkstätten nochmals völlig neue Aspekte und Perspektiven einbringen konnten. Wir haben in der Entstehung und Entwicklung der Kulturkonzeption immer wieder gemerkt, wie wichtig es ist, sich miteinander auszutauschen und zu verständigen, weil es auf allen Seiten immer wieder Aha-Effekte gab. ‘Ach, so seht ihr das, ach, so hängt das zusammen, ach, so kann man das gemeinsam lösen’. Dieses Raustreten aus dem eigenen kleinen Kästchen, um dann gemeinsam festzustellen, dass man Gestaltungsmöglichkeiten hat: Das war eine große Errungenschaft dieses Prozesses.
Aus der eigenen Echokammer heraustreten
Warum ist es so wichtig, die Menschen zu beteiligen?
Ich glaube, ein ganz wichtiger Schlüssel zum Erfolg in fast allem, was man tut, ist die Initialenergie des ersten Schrittes aus der eigenen Echokammer heraus. In seinen eigenen kleinen Karos kennt man sich gut aus und findet dort Bestätigung – allerdings für das, was man ohnehin schon annimmt. In dem Moment, in dem wir aus diesem Kästchen heraustreten, wird es interessant. Daher lohnt es sich, die vielen verschiedenen Communities miteinander zu vernetzten. Uns ist auch die Zusammenarbeit mit Bereichen sehr wichtig, die sich nicht so direkt der Kultur zuordnen. Gerade deswegen ist zum Beispiel das ganze Thema der Stadtteilarbeit so wichtig, um da Brücken zu bauen und Kräfte und Impulse zusammenzubringen.
Was meinen Sie damit?
Gerade wenn man in die Stadtteile schaut, findet man dort Expertinnen und Experten für ihren Stadtteil, die hochqualitative, interessante Angebote machen, sich selbst aber nicht unbedingt als Kulturakteurinnen und -akteure verstehen. Ich nenne da stellvertretend als Beispiel die Stadtteilrundgänge, die es in vielen Kasseler Quartieren gibt.
Kommen wir zu den Dingen aus der Kulturkonzeption, die tatsächlich schon umgesetzt sind. Was ist bisher passiert?
Vor allem das Thema Räume für die freien Szenen sind wir angegangen. Vor drei Jahren gab es einen erheblichen Mangel. Wir haben zum einen ein Portal für Kulturimmobilien aufgebaut, wo Interessierte Räume für eine kulturelle Nutzung suchen und anbieten können. An der Stelle haben wir Angebot und Nachfrage zusammengebracht. Darüber hinaus arbeiten wir an sogenannten dezentralen Orten für Kulturproduktion, um die freien Szenen zu stärken. Dort können sich Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Disziplinen in Ateliers oder mit Sharing-Werkstätten zusammentun.
Außerdem haben wir in den letzten drei Jahren kulturelle Institutionen finanziell gestärkt, beispielsweise das Theaterstübchen, die Caricatura, das Kulturzelt, die Musikschule, die Kasseler Musiktage, das Tanz*werk, die Südstadtgalerien oder KolorCubes, also Akteurinnen und Akteure aus den unterschiedlichsten Bereichen des kulturellen Schaffens. Mit dem Rückenwind der Kulturkonzeption 2030 arbeiten wir auf allen Ebenen an der Weiterentwicklung unserer Stadt und ihrer Bedeutung als wichtigem Kulturstandort.
Wie überprüfen Sie den Erfolg bei der Umsetzung der Kulturkonzeption?
Die Kulturkonzeption ist eine flexible Planung. Gleichermaßen hat sie auch klar definierte Ziele, an denen wir sehr konkret arbeiten. Eine erste Zwischenreflexion mit einer konkreten neuen Fragestellung war für 2020 geplant, und zwar zum Thema ökologische Nachhaltigkeit. Das konnte aufgrund von Corona nicht als Veranstaltung mit vielen Menschen stattfinden, sondern ist dann immer weiter gewandert bis in dieses Jahr und wird nun digital stattfinden. Geplant ist außerdem, dass es in regelmäßigen Abständen Reflexionsrunden und vertiefende Workshops zu relevanten Fragestellungen gibt. Diese Formate sind auch in Zukunft partizipativ.
Wie sieht Ihre Aufgabe bei der Umsetzung aus?
Es gibt vielfältige Aufgaben für unser gesamtes Team. Es geht einerseits darum, Ideen, Perspektiven und Visionen zu entwickeln. Es geht aber auch darum, Probleme zu lösen, Barrieren abzubauen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, Netzwerke zu aktivieren, finanzielle Ressourcen bereitzustellen, Dinge zu hinterfragen. Auch das gehört zum Projekterfolg dazu, dass man immer mal wieder auch gemeinsam daraufschaut: ‘Laufen wir eigentlich alle noch in die richtige Richtung oder müssen wir irgendwo eine Kurskorrektur vornehmen?’ Es ist ein wichtiger Bestandteil eines jeden erfolgreichen Projektes, sich zwischendurch immer wieder auch selbst zu reflektieren.
Konzepte auf Nachhaltigkeit hinterfragen
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Zum Beispiel geht es um Nachhaltigkeit. Mit dem Blick von heute sagen wir: Das ist ein so wichtiges Thema, das muss nachträglich in der Umsetzung der Kulturkonzeption eine stärkere Gewichtung erfahren, als das zum Zeitpunkt der Erarbeitung der Fall war. Mittlerweile werden viel mehr Dinge auf Nachhaltigkeit hinterfragt und überprüft. Gerade ökologische Nachhaltigkeit ist ein enorm wichtiger Aspekt, aberes geht beispielsweise auch um soziale Nachhaltigkeit und Bildungsnachhaltigkeit. Den stärksten Impuls bildet natürlich die Klimafrage. Sie ist eine gemeinsame Aufgabe, die alle Lebensbereiche betrifft. Insofern stellt sich in der Umsetzung der Kulturkonzeption natürlich auch immer wieder die Frage: ‘Wie können wir etwas so lösen, dass es zur Nachhaltigkeit beiträgt?’
Wie sehen Sie die Situation der Kultur derzeit in der Corona-Pandemie?
Diese Situation ist wirklich eine schwere Belastungsprobe für die Kultur. Das mal vorweg. Und das geht einher mit einem hohen Maß an Verantwortung. Wenn ich sehe, wie hart es viele Einrichtungen und Akteurinnen und Akteure trifft und wie verständig sie gleichzeitig mit der Situation des Schließenmüssens und des Abstandhaltens und der Hygienekonzepte umgehen, das verdient Respekt. Gleichzeitig bricht eine finanzielle Grundlage weg. Da gibt es ebenso ein hohes Maß an Verantwortung in Politik und Gesellschaft, um die finanziellen Auswirkung ein Stück weit abzumildern und aufzufangen.
Wie sieht es mit öffentlicher Unterstützung aus?
Da gibt es die Bundesprogramme, die Landesprogramme und auch das städtische “Kopf hoch, Kassel!”-Programm in Höhe von 18 Millionen Euro, was ja sehr schnell aufgesetzt und politisch breit getragen wurde und damit auch schnell wirksam werden konnte. Es ist enorm wichtig, dass es das gibt und dass es fortgeführt wird. “Kopf hoch, Kassel!” ist in 2020 aufgelegt worden und gilt auch für 2021 weiter.
“Impuls aus der Kultur für die Kultur”
Wie sieht die gesellschaftliche Unterstützung aus?
Ganz zentrale Beispiele sind Solidaritätsformate, an denen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Institutionen und der Stadtgesellschaft beteiligt haben, um insbesondere freien Akteurinnen und Akteuren, Soloselbstständigen und den freien Szenen zu helfen. Da ist einmal die Aktion “Ohne Kultur isses für’n Arsch!”, die der KulturBahnhof auf den Weg gebracht hat. Und es gibt die Aktion “Einkommen schaffen!”, die der Personalrat des Staatstheaters initiiert hat. Die Spenden- und Unterstützungsinitiativen haben zusammen über 150.000 Euro als Hilfe für freischaffende Künstlerinnen und Künstler aus der Region generiert. Das ist als Impuls aus der Kultur für die Kultur ganz erheblich.
Wie sind die Kultureinrichtungen mit der Situation umgegangen?
Es gab eine großartige Zusammenarbeit, zum Beispiel im Bereich der Museen mit der Museumslandschaft Hessen Kassel, mit dem Fridericianum, der GRIMMWELT, mit Häusern in freier Trägerschaft wie dem Museum für Sepulkralkultur, der Caricatura und dem Spohr Museum. Da hat nicht jede und jeder für sich das Rad neu erfinden müssen. Die größeren Häuser, die Hygienekonzepte entwickelt hatten, dazu zählen auch unsere städtischen Häuser, Stadtmuseum und Naturkundemuseum, haben ihr Wissen mit kleineren Häusern geteilt, die vielleicht nicht ganz so schnell agieren konnten. Da gab es ein hohes Maß an Solidarität, die ebenso in der Zusammenarbeit mit dem Staatstheater zum Tragen kam.
Wie bindet sich das Kulturamt in solche Prozesse ein?
Wir haben bereits zwei Tage nach Veröffentlichung der ersten Hilfsprogramme ein Unterstützungspapier herausgebracht, das einen Überblick über Fördermittel, Ansprechpartnerinnen und -partner und Antragsbedingungen gibt. Das Dokument wird kontinuierlich aktualisiert und ist öffentlich auf der Webseite der Stadt Kassel verfügbar. Da haben wir sehr schnell geschaut, dass wir alle verfügbaren Informationen zusammentragen, damit sich nicht jeder und jede einzeln durch den Förder- und Unterstützungsdschungel ‚mit Kompass und Machete‘ durcharbeiten muss. Darüber hinaus sind mehrere tausend Stunden Beratungsleistungen innerhalb des Kulturamtes erfolgt, zu Einzelsituationen, zu Einzelfalllösungen, aber auch zu ganz allgemeinen Fragestellungen, die einfach sehr viele Menschen betreffen.
Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie insgesamt auf die Kulturförderung?
Wir haben die gesamte Kulturförderung mit allen Fördermitteln nochmals dahingehend durchgearbeitet und überprüft, wo sie substanzerhaltend am besten eingesetzt ist. Kulturschaffende mussten aufgrund der Pandemie ihre Projekte verändern, haben teilweise digitale Formate entwickelt oder Sachen in den Außenbereich verlegt. Da haben wir die Maßstäbe für die Förderung angepasst, weil die Umsetzbarkeit und die Planungssicherheit einfach eine komplett andere ist, als das sonst der Fall ist. Unser Ziel war und ist dabei, keine Kürzungen in der Kulturförderung vorzunehmen und keine substanziellen Verluste innerhalb der Vielfalt der Kassler Kultur zu erleiden.
Künstlerinnen- und Künstlerhonorare als wichtige Neuerung
Wie sieht die Kulturförderung in Kassel grundsätzlich aus?
Eine sehr wichtige Neuerung sind die Künstlerinnen- und Künstlerhonorare, die es seit letztem Jahr in Kassel gibt und mit denen sie für Ausstellungen honoriert werden. Das haben bisher nur wenige Städte wie Berlin, Hamburg, Wiesbaden und Mainz. Das ist aber kein Förderinstrument, sondern die Anerkennung einer Leistung. Zwei weitere sehr zentrale neue Fördertöpfe sind der Förderetat für kulturelle Bildung und Teilhabe in Höhe von 30.000 Euro jährlich. Der ist komplett neu. Für Stadtteilarbeit und Vernetzung innerhalb des Stadtgebietes stehen weitere 30.000 Euro zur Verfügung.
Wie hat sich der Kulturförderetat seit dem Beschluss der Kulturkonzeption entwickelt?
Von 2018 bis 2020 hat er sich institutionell und projektbezogen um über 60 Prozent erhöht. Es geht uns darum, die Kultur langfristig zu stärken, also nicht ein kurzfristiges Feuerwerk abzubrennen. Was ich damit benannt habe, sind ausschließlich Kulturfördermittel aus dem städtischen Etat. Da sind noch keine Investitionsmittel und keine Baumaßnahmen eingerechnet, wie wir sie als Stadt Kassel derzeit beispielsweise im Kasseler Osten bei der kulturellen Umnutzung der ehemaligen Hochbunker zusammen mit dem Amt für Stadtplanung und den öffentlichen Mitteln aus der Städtebauförderung für kulturelle Zwecke umsetzen. Da ist auch noch kein documenta-Institut dabei.
Kriegen wir denn ein documenta-Institut? Zuletzt war es sehr still …
Auf jeden Fall bekommen wir ein documenta-Institut. Der politische Rückhalt für die Gründung ist da. Die Projektpartner, also der Bund, das Land Hessen, die Stadt Kassel, die Universität Kassel mit der Kunsthochschule, die documenta und Museum Fridericianum gGmbH mit dem documenta-Archiv: Alle wollen es. Die Voraussetzungen sind geschaffen. Das Grundkonzeptzu dem, was das documenta-Institut grundsätzlich leisten wird, liegt vor. Auf dieser Grundlage steht die Finanzierung. Die inhaltliche Arbeit hat begonnen. Der Gründungsdirektor ist berufen. Die documenta-Professuren sind in Berufung. Die Digitalisierung innerhalb des documenta-Archivs läuft. Der Standort wird auch noch kommen und das documenta-Institut den Kulturstandort Kassel weiter stärken.
Interview: Lars Hofman/Klaus Schaake
Seit 2017 ist Dr. Susanne Völker (parteilos) Kulturdezernentin der Stadt Kassel. Die gebürtige Dresdenerin studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Rechtswissenschaften und Museumsmanagement in Hamburg und Wien und hat an der Universität Paderborn in den Kulturwissenschaften über UNESCO-Weltdokumentenerbe in der Kulturellen Bildung promoviert. Nach einigen Stationen in verschiedenen Museen als wissenschaftliche Kuratorin und Museumsleiterin eröffnete die Kunsthistorikerin, Kulturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin 2015 als Gründungsdirektorin die GRIMMWELT Kassel. Während der Entstehung bereits hatte sie bereits die Projektleitung und Geschäftsführung inne. 2017 brachte die 41-Jährige die partizipative Entwicklung der „Kulturkonzeption Kassel 2030“ auf den Weg.
Auch zu lesen in der Ausgabe 104, Juni/Juli 2021
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