Die Weisheit des Körpers
Achtsamkeit: Mitgefühl für die Welt, die uns umgibt, unsere Nächsten und für uns selbst.
Ein achtsames Leben zu führen bedeutet, Mitgefühl für die Welt, die uns umgibt, unsere Nächsten und für uns selbst zu haben. Die Ursprünge dieser Lebensphilosophie entwickelten sich bereits vor knapp 3000 Jahren im fernöstlichen Raum.
StadtZeit-Gespräch mit Beate Patzig, Achtsamkeitslehrerin
Es ist ein regnerischer Wintermorgen. Auf dem Tisch der Redakteurin dampft eine warme Tasse Schwarztee, als das Telefon im Flur zu klingeln beginnt. Gerne hätte sie sich mit Beate Patzig in einem Café ganz real getroffen. Dies ist aktuell nicht möglich. Auch knapp ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie ist nichts wie es einst war. Nur wenige Minuten später wird Beate Patzigs freundliche Stimme neue Wege eröffnen. Wege, um den Stillstand den die Pandemie aktuell im Alltag der Redakteurin häufig bedeutet, zu nutzen, um ganz essentiell zu hinterfragen wie ihr Leben eigentlich aussehen soll…
Frau Patzig, jeder von uns hat den Begriff Achtsamkeit bereits gehört. Was bedeutet er für Sie?
Die Definition von Achtsamkeit ist, von Moment zu Moment akzeptierend wahrzunehmen, was in unsere Aufmerksamkeit tritt, ohne zu bewerten und zu beurteilen.
Das klingt leichter, als es wahrscheinlich ist. Bewerten wir nicht ganz automatisch, was um uns herum geschieht?
Durch unsere Kultur und durch das Aufklärungszeitalter, das vor mehr als 200 Jahren begann, sind wir sehr darauf geprägt, vorwiegend das Denken zu schätzen. Daher reagieren wir noch immer sehr stark aus den gedanklichen Prozessen heraus.
Wie lässt sich das Ändern und wofür ist das gut?
Durch Achtsamkeitsübungen lernen wir, wieder mehr Kontakt zu unserem Körper zu knüpfen über den wir ja ganz wichtige Informationen über die augenblickliche Situation, in der wir uns befinden, erhalten. Wir können oftmals bessere Entscheidungen treffen, wenn wir unser körperliches und emotionales Empfinden in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen.
Seit geraumer Zeit steigen die Zahlen der Burn-Out Erkrankungen. Haben wir verlernt, auf körperliche Signale zu hören?
Die Leistungsgesellschaft fördert natürlich immens den Stress, dem sich viele von uns ausgesetzt fühlen. Durch dieses Denken nach dem Motto „Immer besser, höher, schneller“ entsteht natürlich ein permanenter Druck. Wie der Einzelne damit umgeht, ist aber immer seine Entscheidung. Nur, ohne ein Innehalten und Wahrnehmen, wie es mir im Moment wirklich geht, treffe ich vielleicht oft Entscheidungen, die eigentlich über meine Kräfte gehen. Oder ich sehe nicht mehr, dass es auch Unterstützung gibt und ich darum bitten kann. Zugleich braucht es ein Umdenken von vielen Menschen, um einen grundlegenden Wandel möglich zu machen.
„Der Wunsch achtsamer zu leben ist groß“
Findet in der westlichen Welt gerade ein Umdenken statt?
Ich nehme zwischen dem Wunsch, achtsamer zu leben und achtsamem Verhalten eine Diskrepanz wahr. Wie mit der Natur, gehen wir auch mit uns selbst um und leisten Raubbau. Lernen wir, mehr mit uns im Einklang zu sein, dann können wir auch anders mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen umgehen.
Leichter gesagt, als getan…
Ich weiß, wie schwer es ist, Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren. Zu einem Großteil bestreiten wir unser tägliches Leben aus unseren Routinen heraus, sozusagen im „Autopilot“. Es braucht Zeit und eine beständige Beschäftigung mit der Achtsamkeit, damit sich unser ganzes System ändern kann. Deswegen ist es sehr schwer im Alltag, insbesondere im Arbeitsalltag, wo die Menschen fast nur kognitiv unterwegs sind und Entscheidungen Schlag auf Schlag getroffen werden, Achtsamkeit zu integrieren. Ohne regelmäßiges Üben, zunächst in einer ruhigen Umgebung, ist es kaum machbar aus diesen Automatismen heraus zu kommen.
Wie kommt es, dass sich viele Achtsamkeitsübungen aus fernöstlichen Traditionen heraus entwickelten?
Im fernöstlichen Raum beschäftigt man sich schon viel länger mit dem Nutzen von Achtsamkeit. Die westliche Welt ist noch heute eher christlich ausgerichtet. Und im Christentum hat man sich sehr wenig mit dem Körper beschäftigt, ganz im Gegensatz zu den fernöstlichen Kulturen. Meditation entstand vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren und Yoga hat noch einen älteren Ursprung. Diese Kulturen können daher verständlicherweise aus einem ganz anderen Erfahrungsschatz schöpfen. In unserer westlichen Tradition hat man sehr spät angefangen zu merken, dass z.B. Gymnastik dem Körper gut tut. Als die sportliche Betätigung vor ca. 200 Jahren auch in unseren Kreisen aufkam, hat man das eher mit militärischem Drill geübt. Viele Wiederholungen, es muss Schmerzen bereiten, erst dann ist das Üben gut. Die Tradition der Achtsamkeit hingegen ist vom Ursprung her sanft angelegt.
„Ein anderer Daseins-Modus“
Sie arbeiten nach dem Prinzip der „Mindfulness-based stress reduction“, kurz MBSR. Worin unterscheidet sich diese von ihren buddhistischen Wurzeln?
Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn, der Begründer von MBSR, selbst hat jahrelange Meditationserfahrungen gesammelt und erarbeitete daraus schließlich ein Konzept für seine chronisch schmerzkranken Patienten. Das Üben im klassischen buddhistischen Sinn hat häufig das Ziel der Erleuchtung vor Augen. MBSR ist völlig neutral. Hier geht es einfach darum, ganzheitlich wahrzunehmen was geschieht im Körper, was machen die Gedanken, welche Gefühle eröffnen sich mir. Ohne die ständige Bewertung des Geistes kann sich eine mitfühlende, gelassene Haltung auch in schwierigen Situationen entwickeln.
Wie läuft das ab?
Zum einen gibt es acht Abende und einen Achtsamkeitstag, wo eine formelle Praxis mit Körper- und Sitzmeditation geübt wird. Außerdem lernen wir in den MBSR-Kursen ziemlich von Beginn an Alltagshandlungen achtsam zu tun, egal ob duschen, Zähne putzen oder Kaffee kochen. Als ich früher Kaffee gekocht habe, entstand nebenbei schon der Einkaufszettel für später. Heute koche ich Kaffee. Das bedeutet, ich öffne die Tüte, rieche, dass der Kaffee gut riecht, nehme wahr wie ich den Löffel in das Pulver einführe, wie ich es in die Kaffeemaschine gebe und wie sich der Duft beim Kochen entwickelt. Das ist etwas ganz anderes, als das Ganze nur so nebenbei zu machen.
Ich entschleunige also meinen Alltag?
Ja, beim Üben entsteht Entschleunigung. Bei den meisten Menschen ist es allerdings oft so, dass durch Achtsamkeitsübungen zunächst mehr Stress entsteht. Die Menschen denken, sie müssten das Üben der Achtsamkeit zwischen ihre normalen Aktivitäten pressen. Das macht erstmal noch mehr Stress. Wenn ich mich wirklich auf diesen Achtsamkeitsweg einlasse, werde ich merken, dass ich mich entscheiden muss. Welche Dinge lasse ich in mein Leben, welche sind mir wichtig.
Stellen wir uns vor: Ich bin durch meine Arbeit gestresst, kann zuhause nicht abschalten, die Gedanken kreisen um meine To-Do-Liste und ich kann mich somit nicht auf Achtsamkeitsübungen einlassen. Was kann ich tun?
Wissenschaftler haben herausgefunden das wir jeden Tag ungefähr 60.000 bis 80.000 Gedanken denken. Meinen Teilnehmern erkläre ich gerne, dass der Bereich des Gehirnes, wo das Denken stattfindet, eigentlich ein eigenständiges Organ wie jedes andere ist. Es hat die Aufgabe zu denken. Das heißt wir können unser Denken nicht einfach abstellen. Aber wir können üben, Distanz zu unseren Gedanken zu entwickeln. Es ist ganz interessant, einfach mal zu schauen wie kleine Kinder lernen. Es dauert, bis das Kind vom Liegen ins Sitzen kommt, vom Sitzen ins Stehen und vom Stehen ins Laufen. Es ist unglaublich wie viele Wiederholungen es braucht bis das Kind den Laufprozess beherrscht – aber so lernen wir auch noch heute: durch kleine Schritte und viele Wiederholungen. Achtsamkeit üben, ist so ähnlich, als trainiert man im Fitnessstudio einen Muskel, der durch die Wiederholungen immer kräftiger wird. Nur durch Üben stärken wir den „Zurückholmuskel“, der die Aufmerksamkeit stärkt, z.B. in dem wir immer wieder zum Atem zurückkehren.
„Der Körper lernt aus Erfahrungen“
Inzwischen gibt es einen ganzen Markt für Achtsamkeitsprodukte, wie Terminkalender, Ratgeber und Apps. Kann ich jedem Anbieter vertrauen?
Achtsamkeit ist ein Konsumgut geworden. Deswegen ist es gerade am Anfang wichtig, auf solide Grundlagen zurück zu greifen. Wir als MBSR-Lehrende haben einen Verband mit Website, auf der man Informationen findet, welche Anbieter es in meiner Stadt gibt, die nach dem MBSR-Konzept ausgebildet sind. Das würde ich als Anfänger immer Apps oder Ratgebern vorziehen. Bei Achtsamkeit geht es darum, die Dinge zu tun, da der Körper nur aus Erfahrungen lernt. Wir können hundert Bücher über Achtsamkeit gelesen haben, deswegen sind wir noch nicht achtsamer. Man sieht sehr genau den Unterschied zwischen Wissen und Bewusstsein. Ein wesentliches Merkmal der Achtsamkeit sollte daher auch sein, dass wir selber merken, wie wir gerade im Leben stehen und wie wir unsere Entscheidungen treffen. Verlasse ich mich nur auf eine App, die mich immer erinnert „Jetzt ist Zeit für Achtsamkeit“, dann gebe ich die Verantwortung wieder ab. Das heißt nicht, dass es keine guten Meditationsanleitungen im Internet gibt, und manchmal ist vielleicht auch eine App sinnvoll, aber aus meiner eigenen Erfahrung heraus braucht es erst einmal reale Menschen, die mich geduldig und behutsam anleiten und durchaus auch Fragen stellen.
Ein MBSR-Kurs dauert in der Regel acht Wochen. Mit welchen „Erfolgen“ kann ich nach dem Kurs rechnen?
Viele Menschen haben über die Jahre mit einem hohen Antrieb bis zu 150 Prozent gegeben. Sie sind meist auch privat engagiert und wenn sie nun plötzlich in die Ruhe kommen sollen, kann es sein, dass das zu Beginn gar nicht funktioniert. Manchmal habe ich Teilnehmende, denen es zu Beginn kaum möglich ist, zwei Minuten still zu liegen. Wenn diese Menschen nach acht Wochen für 45 Minuten still auf den Boden liegen können, dann ist das für mich eine ganz tolle Geschichte!
Andere machen ganz andere Erfahrungen, sie merken, dass sie jeden Tag negative Glaubenssätze über sich selbst denken. Das zu erkennen ist für sie wichtig. Wieder andere lernen zu erkennen, dass sie trotz Schmerzproblematik einen funktionierenden Körper haben. Es ist vielleicht nur die eine Stelle die weh tut, aber 99 Prozent des Körpers funktionieren richtig gut. Das bedeutet, jeder Teilnehmer kommt mit einer eigenen Geschichte und mit einer individuellen Lebenssituation in meinen Kurs. Jeder und jede einzelne schaut wie Achtsamkeit in diesem jetzigen Moment bereichernd für sie oder ihn sein kann.
Interview: Johanna Groß
Illustration: Amelie Stute
Foto Titelseite, Seite oben: AdobeStock_309214464
Quelle dieses Textes:
StadtZeit Kassel Magazin, Nr. 102, Februar/März 2021
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Die Gesprächspartnerin
Beate Patzig ist Achtsamkeitslehrerin und Fastenleiterin. Seit 2012 bietet sie gemeinsam mit der Volkshochschule Kassel achtwöchige MBSR-Seminare für Interessierte an, um neue Wege zur Stressbewältigung aufzuzeigen. In einer freundlichen Atmosphäre gewährt sie den Teilnehmenden die Möglichkeit sich umfassend mit der eigenen Lebenssituation zu befassen und mehr Selbstmitgefühl und Gelassenheit zu entwickeln.
Die Interviewerin
Johanna Groß, mag laue Sommernächte unterm Sternenhimmel mit Freunden, warme Herbstabende mit Tee, Katze und Buch, sowie Frühlingshafte Wanderungen durch die blühende Natur. Johanna ist Filmemacherin, Fotografin und an aller erster Stelle Geschichtenerzählerin. Sie interessiert sich für die tiefen Belange menschlichen Lebens, zählt Alltagsmomente beobachten zu ihren Hobbys und durchforstet viel zu gerne alte, dämmrige Bibliotheken als Inspiration für ihre Erzählungen.