Ein würdiges Leben bis zuletzt
Tod und Sterben wieder ins Bewusstsein der Menschen und in die Mitte der Gesellschaft zu holen ist das Ziel der Hospizbewegung.
Auch in Kassel ist der Hospizgedanke vielfältig vertreten.
„Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben,
sondern den Tagen mehr Leben.“
(Cicely Saunders)
Seit Tagen ist der Intensiv-Patient, der am Wochenende eingeliefert wurde, in einer kritischen Verfassung. An Maschinen angeschlossen, ragen aus seinem Körper Schläuche, die ihn mit lebenswichtigen Medikamenten, Schmerzmitteln und Nahrung versorgen. Andere technische Gerätschaften ersetzen ausgefallene Organfunktionen und wieder andere Schläuche und Drainagen leiten Ausscheidungen und Sekrete ab. Die Geräte, die seinen Zustand kontinuierlich überwachen, schlagen Alarm, sobald sich die Werte über einen eingestellten Grenzwert hinaus verändern. Unter dem dünnen Krankenhaushemdchen ist der Patient nackt und den Blicken der ihn Versorgenden ausgeliefert. Läge er nicht im künstlichen Koma, bekäme er die Geschehnisse um sich herum direkt mit: die vielen ihm fremden Menschen verschiedener Berufsgruppen, die ihre Tätigkeiten an ihm verrichten, die Geräuschkulisse durch die alarmierenden Geräte, die einen normalen Schlaf-Wach-Rhythmus nahezu unmöglich machen, die Hektik, die ausbricht, wenn plötzlich Notfälle eintreten, bis hin zu sterbenden Menschen im Nachbarbett. Eine albtraumhafte Vorstellung, die niemand wirklich am eigenen Leib erleben möchte und die gleichzeitig tagtägliche Realität in unserem Gesundheitswesen ist; auch für Menschen, die sich bereits in ihrer letzten Lebensphase befinden.
Am liebsten zu Hause sterben
Zweifellos hat die moderne Medizin wesentlich dazu beigetragen, dass die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich gestiegen ist. Doch der medizinische Fortschritt hat auch Schattenseiten. Obwohl Umfragen zufolge die Mehrheit der Menschen am liebsten zu Hause sterben möchte, endet heute nahezu jedes zweite Leben im Krankenhaus. Studien zeigen, dass es gerade am Lebensende häufig zu intensivmedizinischen Behandlungen und im Rahmen der technischen Möglichkeiten auch zu Therapien kommt, die keinen wirklichen Nutzen für schwerkranke Patienten mehr haben. Fraglich ist, ob diese Behandlungsintensität überhaupt den Wünschen der Patienten und ihrer Angehörigen entspricht. Die Medizin hingegen sieht ihre originäre Aufgabe in der Lebenserhaltung und -verlängerung. Themen wie „Tod“ und „Sterben“ finden da kaum noch Raum, werden häufig verdrängt oder als medizinisches Versagen angesehen. Angesichts dieser Diskrepanz gründete sich 1998 am damaligen Kasseler Rot-Kreuz-Krankenhaus der „Verein der Förderer des Kasseler Hospitals e.V.“ – heute „Kasseler Hospital e.V.“ – mit dem Ziel, eine stationäre Einrichtung mit Elementen von Hospizarbeit und Palliativversorgung zu schaffen. „Wir wissen, dass der heilende Aspekt des Krankenhauses, dem die dort Tätigen verpflichtet sind, ein Spannungsfeld zum Abschiednehmen und dem Begleiten der Lebensendzeit darstellt“, sagte der damalige Vereinsvorsitzende Dr. Wolfgang Spuck dem StadtZeit Kassel Magazin in der 91. Ausgabe. Aus dem Palliativbereich, der dort 1999 entstand, entwickelte sich das heutige Palliativzentrum an den DRK-Kliniken Nordhessen in Wehlheiden. Es bietet über die stationäre Palliativversorgung hinaus auch umfassende Möglichkeiten der häuslichen Betreuung. Zusätzlich beherbergt es mit der „Akademie für Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit Nordhessen e.V.“ ein Bildungsinstitut, das Fachpersonal und Interessierten Fort- und Weiterbildungskurse zu den Themen Palliativversorgung und Sterbebegleitung bietet.
Ehrenamtliche tragen die Hospizbewegung
Die Hospizbewegung wendet sich gegen die Tendenz der Tabuisierung der menschlichen Vergänglichkeit; für sie gehören Tod und Sterben zum Leben dazu und sie möchte diese wieder ins Bewusstsein der Menschen bringen. Ziel ist es nicht, das Leben von schwerkranken und sterbenden Menschen zu verlängern, sondern deren Lebensqualität in ihrer letzten Lebensphase zu verbessern und ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Im Mittelpunkt der Hospizarbeit steht die Sterbe- und Trauerbegleitung der unheilbar Erkrankten und ihrer Angehörigen. Diese findet sowohl bei den Betroffenen zu Hause als auch in stationären Einrichtungen, wie Pflegeheimen oder Hospizen, statt.
Der Begriff `Hospiz´ leitet sich vom lateinischen Hospitium ab, was so viel wie Gastfreundschaft oder Herberge bedeutet. Er geht auf die mittelalterlichen kirchlichen Pilgerherbergen zurück und verdeutlicht somit den ursprünglichen Beherbergungsgedanken von Reisenden. Aber auch Arme und Kranke wurden in diesen Einrichtungen versorgt. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Hospize im heutigen Sinne als stationäre Einrichtungen zur Sterbebegleitung. Darauf aufbauend entwickelte sich in den 1960er-Jahren in England die moderne Hospizbewegung. Die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders (1918-2005) gilt als ihre Begründerin. Sie eröffnete 1967 in einem Londoner Ortsteil das St. Christophers Hospice, das als erstes Hospiz im modernen Sinne gilt und noch heute besteht. Besonderen Wert legte Saunders auf effektive Schmerzlinderung. Ihre Forschungen auf diesem Gebiet machten sie auch zur Pionierin in der Palliativmedizin. Darüber hinaus war ihr die psychosoziale Betreuung der Sterbenden sehr wichtig, um ihnen ein würdiges Leben bis zuletzt zu ermöglichen. Bei der Umsetzung ihrer Initiative war Saunders von Anfang an auf das Engagement von freiwilligen Helfenden angewiesen. Von England aus verbreitete sich die Hospizbewegung in Europa und darüber hinaus.
In Deutschland nahm diese Bewegung erst in den 1980er-Jahren an Fahrt auf. Vereine, Verbände und ambulante Hospizdienste gründeten sich daraufhin; die ersten modernen stationären Hospize entstanden erst im Jahr 1986, das erste Kinderhospiz folgte 1998.
Auch hierzulande ist die Hospizbewegung vor allem eine Bürgerbewegung, die vom Engagement zahlreicher ehrenamtlicher Helfenden getragen wird, ohne deren Einsatz die umfassende Betreuung und Versorgung von Sterbenden und ihren Angehörigen nicht möglich wäre.
Sterbenden Zeit schenken
Heute gibt es in Deutschland nach Zahlen des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes e.V. rund 1.500 ambulante Hospizdienste, ca. 250 stationäre Hospize für Erwachsene und 18 für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie ca. 330 Palliativstationen in Krankenhäusern, wovon drei für Kinder- und Jugendliche vorgesehen sind. Darüber hinaus gibt es bundesweit 361 Teams der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), 34 davon kümmern sich speziell um Kinder und Jugendliche.
Stark vertreten ist der Hospizgedanke auch in Kassel. Über das bereits erwähnte Palliativzentrum hinaus gibt es hier mit dem 1995 gegründeten Kasseler Hospiz-Verein und dem hiesigen Hospiz der Evangelischen Altenhilfe Gesundbrunnen, das im Jahr 2000 seine Pforten öffnete, zwei weitere langjährig bestehende Institutionen der Hospizarbeit. Seit 2016 gibt es mit dem Mehrgenerationenhospiz des Heilhauses ein zweites stationäres Hospiz in Kassel. Darüber hinaus verfügt heute die Mehrzahl der Kasseler Krankenhäuser über Palliativstationen oder Möglichkeiten der palliativmedizinischen Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten, und weitere mobile Teams, die spezialisierte ambulante Palliativversorgung anbieten, kümmern sich um die häusliche Betreuung von schwerkranken und sterbenden Menschen. „Die Patientenautonomie und der Patientenwille stehen dabei an erster Stelle. Damit etwas möglich ist, was früher eher normal war, nehmen wir Menschen an die Hand und unterstützen sie dabei diesen Willen umzusetzen“, sagten Susanne Siegward und Christian Krieg-Hartig vom DRK Palliative-Care-Team Kassel dem StadtZeit-Magazin im Frühjahr 2019 über die Prämissen ihrer Arbeit der Versorgung von schwer kranken Menschen in ihrer vertrauten Umgebung.
Die enorme Bedeutung Ehrenamtlicher für die Hospizarbeit wird auch in Kassel deutlich. So bildet sowohl der Kasseler Hospiz-Verein e.V. als auch der Verein Kasseler Hospital e.V. regelmäßig ehrenamtliche Begleiterinnen und Begleiter aus, die für die sterbenden Menschen da sind; sei es in ihrer häuslichen Umgebung, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder im Hospiz. Sie schenken den Sterbenden vor allem ihre Zeit und gehen auf ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. Das ermöglicht einerseits ein würdevolles Lebensende und trägt andererseits dazu bei, die Themen Tod und Sterben wieder als Teil des Lebens in der Gesellschaft zu verankern.
Text: Rosemarie Rohde
Illustration: Amelie Stute
Quelle dieses Textes:
StadtZeit Kassel Magazin, Nr. 103, April/Mai 2021
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Die Autorin
Rosemarie Rohde ist examinierte Krankenschwester, arbeitet auf einer Intensivstation und studiert Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Sie interessiert sich besonders für sozialpolitische Themen.
Die Illustratorin
Amelie Stute studiert Illustration und Redaktionelles Gestalten an der Kunsthochschule Kassel. Beobachtungen aus dem Alltag sind Inspirationsquelle für ihre Geschichten und Illustrationen.