Eine Stimme für viele Ohren
Seit fast einem Vierteljahrhundert ist Talat Kaya mit Radyo Kassel auf Sendung und begleitet viele Menschen durch ihren Alltag.
Mit Radyo Kassel ist Talat Kaya seit fast einem Vierteljahrhundert auf Sendung und begleitet viele Menschen durch ihren Alltag. Seine Hörerinnen und Hörer lässt er an seinem unbändigen Wissensdurst teilhaben.
Talat Kaya im Sendestudio von Radyo Kassel, Foto: Nuria Rojas Castañeda
Es ist 16 Uhr und das Radyo Kassel geht live auf Sendung. Talat Kaya sitzt in seinem Sendestuhl im Freien Radio Kassel und begrüßt die Hörerinnen und Hörer mit einem prägnanten Leitspruch: „Radyo Kassel kulaktan girer beyinde“ – Radyo Kassel geht durchs Ohr direkt ins Gehirn.
Seit 24 Jahren berichtet der Radiomacher nun schon von montags bis freitags in seiner Muttersprache Türkisch über das Tagesgeschehen in Kassel, Deutschland und aller Welt. Zudem interviewte er viele türkischsprachige Menschen aus verschiedenen Berufsfeldern zu ihrem Alltag und bietet über die Berichterstattung hinaus auch eine Wunschliederstunde an, in der sich die Hörer und Hörerinnen Musik wünschen können. Oft rufen die Zuhörenden für Geburtstage oder Jubiläen an.
Seine Sendung nimmt Talat Kaya mit einer Kamera auf, um sie auch auf You Tube zu veröffentlichen.
Das Freie Radio, von wo aus Talat Kaya sendet, liegt in der Innenstadt Kassels. Vom Studio aus sieht man, weit über den Friedrichsplatz und die herrschaftlichen Aueanlagen hinaus. Jeden Tag planen und realisieren Menschen dort ehrenamtlich Programm und neue Projekte, welche sie mit viel Energie und Zeitaufwand erarbeiten und ausstrahlen. Talat Kaya war sofort dabei, als 1995 das Freie Radio entstand. Im Mai 1997 sendete er die erste Radyo Kassel-Sendung live.
Talat’s Tag beginnt und endet mit dem Radio
Um 10 Uhr morgens trifft er im Freien Radio ein, um seine Sendung vorzubereiten und seine Beiträge schriftlich zu strukturieren. Diese strahlt der Radiomacher um 16 Uhr aus. Erst um 18 Uhr endet sein Tag im Radio.
Zuhause beginnt die Recherchearbeit für die kommende Sendung. Talat Kaya liest mehrere Zeitungen schaut sich die Tagesthemen und Dokumentationen verschiedener deutscher Fernsehsender an und forscht an der einen oder anderen Stelle nach. In dieser meist mehrstündigen Recherche entscheidet sich für ihn, was er am nächsten Tag im Radio berichten wird. Auf die Frage, was seine Beweggründe waren dieses Ehrenamt zu beginnen und niemals aufzugeben, antwortet Talat Kaya mit viel Leichtigkeit, Freude und einem Strahlen im Gesicht: „Ich bin ein neugieriger Mensch. Die Arbeit macht mir sehr viel Spaß, weil ich genau hinschauen möchte und so gerne analysiere.“ Zudem schätzt er die Eigenverantwortung und die Freiheit, die er dadurch hat, seine eigene Sendezeit inhaltlich zu konzipieren und technisch zu umzusetzen.
An materiellen Reichtum zu gelangen war nie sein Ziel. Talat Kaya wollte seine Zeit sinnvoll investieren. Dabei schaute er selbst lange Zeit keine deutschen Nachrichten und wusste nicht, was regional geschieht. Er verfolgte bloß die türkischen Nachrichten bis er bemerkte, dass sie wenig von seinem Alltag handeln. „Der Körper war hier, aber mein Kopf in der Türkei“, bemerkt er. So öffnete er sich für die regionale und internationale Berichterstattung. Die türkischen Nachrichten interessierten ihn weiterhin, doch ebenso andere internationale Entwicklungen rund um den Globus. „Der Mensch möchte sein Wissen mit anderen teilen“, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen, „das ist ganz natürlich“. Er sieht seine Arbeit nicht als selbstlose Handlung an, sondern als eine Konsequenz dessen, dass er sich informiert und interessiert.
Menschen intellektuell durch den Alltag begleiten
Dabei gibt er türkischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit an seiner Neugierde teilzuhaben und insbesondere über die Geschehnisse in Kassel und ganz Deutschland informiert zu sein. Denn „es ist wichtig darüber Bescheid zu wissen, was in dem Land, in dem man lebt, vor sich geht.“ Talat Kaya bietet eine Alternative zu den türkischen Nachrichten an, die sich vor allem auf die Türkei fokussieren und den Lebensalltag in Deutschland nicht mit einbeziehen. „Ich will eine vielschichtige Sendung schaffen“, erzählt Talat Kaya entschlossen. Mit diesem Vorsatz erreicht er viele Menschen in Kassel und Umgebung und fördert somit auch das Gefühl von Zugehörigkeit. „Wie verstehen wir eigentlich Integration? Was müssen wir darunter verstehen?“, denkt er laut nach. „Ein gegenseitiges Kennenlernen von Menschen verschiedener Kulturen ist nicht möglich, wenn sie sich als Einwohner und Ausländer begegnen. Somit bleibt die eine Person zu Teilen fremd und wird schnell Opfer von Beschuldigungen. Vorurteile gibt es immer, doch auch das Bild vom Zusammenleben in einer Gesellschaft ist kaputt“, kritisiert er und fährt fort: „Das Streben danach, der oder die Beste zu sein, hindert Menschen daran, sich auf Augenhöhe zu begegnen und sich nicht automatisch als potenzielle Konkurrenten zu sehen.“
Doch Talat Kaya akzeptiert trotzdem keine Schuldzuweisungen. Er appelliert an jeden und jede, die eigenen Sichtweisen zu verändern, andere Standpunkte zu verstehen und das Beste daraus entstehen zu lassen. „Das Wichtigste ist, dass man neugierig bleibt und sich nicht gegenüber anderen Menschen oder Wissen verschließt. An mir selbst beobachte ich, wie langsam der Mensch seine Gewohnheiten und Ansichten verändert und die Lebensweise umformt. Ich veränderte mich aber durch die stetige und intensive Auseinandersetzung mit Politik und Kultur komplett.“
Das Radio ist eine Chance.
Talat Kaya ist dabei bewusst, dass viele Menschen aufgrund ihrer Lebensrealität nicht die Möglichkeit haben, sich philosophische oder politische Fragen zu stellen. Gerade für diese Menschen sei das Radio das perfekte Medium. Talat Kaya erfährt oft, dass seine Sendung täglich auch bei der Arbeit läuft. Das Medium ermöglicht es den Alltag von jeder und jedem mit einer kontinuierlichen Berichterstattung zu kombinieren. Aber auch darüber hinaus zählt Talat Kaya auf das Radio. „Menschen sollten doch selbst träumen dürfen und ihre eigenen Bilder im Kopf erschaffen.“
Rund 2.500 türkische Familien leben in Kassel, von diesen seien 56 Prozent regelmäßige Hörer und Hörerinnen der Sendung Radyo Kassel. Immer wieder habe das Freie Radio durch sie Unterstützung erfahren. Selbst nichttürkischsprachige Menschen schalten die Sendung ein, da ihnen der Wortklang und die türkische Musik sehr gefällt, weiß der Radiomacher aus den Rückmeldungen, die er bekommt.
Talat Kaya schafft es, die türkische Sprache und Kultur wertzuschätzen und regional zu informieren – und das mit einem unbändigen Interesse an Neuem. Die Sendung Radyo Kassel ist schon lange zu seiner Lebensaufgabe geworden!
Quelle dieses Textes:
StadtZeit Kassel Magazin, Nr. 102, Februar/März 2021
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Die Autorin
Nuria Rojas Castañeda studiert bildende Kunst an der Kunsthochschule Kassel. Sie schreibt Kurzgeschichten und dokumentiert gerne das Alltagsgeschehen mit Zeichnungen, Fotografien und Audioaufnahmen.