Kirchditmolds Ortskern mitgestalten
In der „Planungszelle“ trugen Kirchditmolder Bürger:innen Ideen für eine attraktive Gestaltung ihres Ortskerns zusammen.
Am frühen Abend des 11. Mai kamen 25 ausgewählte Kirchditmolder:innen in der Mehrzweckhalle der Friedrich-List-Schule zusammen, um sich über die Gestaltung Kirchditmolds auszutauschen und gestalteten auf diesen Weg aktiv ihren Stadtteil mit. Dabei trugen sie ihre Anforderungen an einen lebenswerten Ortskern mit einer guten Verkehrssituation zusammen. Hintergrund des Zusammenkommens war die Konzeptstudie vom Planungsbüro „plan zwei“, welche die Stadt Kassel zur Stärkung der Aufenthaltsqualitäten und Verkehrssicherheit um die Teich- und Zentgrafenstraße erstellen ließ. Dabei fingen die Initiativen „Unser Kassel 2030” und “GWÖ” mit dem Verfahren der Planungszelle, einem Verfahren zur Beteiligung der Bürger:innen an offiziellen Planungs- und Entscheidungsprozessen, nun ein Stimmungsbild der Bürger:innen ein.
Fundierte Fachinformationen gaben Jan Schindler vom Amt für Stadtplanung, Bauaufsicht und Denkmalschutz der Stadt Kassel und Moritz Gottschling vom Planungsbüro LK Argus Kassel GmbH, welche als Verfasser des Mobilitätskonzepts fungierten. Die Erkenntnisse aus der Veranstaltung fließen dabei in die weitere Bearbeitung eines Mobilitätskonzeptes für Kirchditmold ein.
Ein Experiment im Experiment
Im Sinne der Planungszelle erstellten die Teilnehmenden in wechselnden Kleingruppen zu gesetzten Problemstellungen Thesen. “Mit dem Beteiligungsformat der Planungszelle werden demokratische Prozesse sichtbar, da ihr eure Meinungen als lokale Expert:innen in die Planungsprozesse der Stadt einbringen könnt. ”, leitete Karin Bönninger von der GWÖ-Regionalgruppe Kassel die Veranstaltung ein. So strebten die Veranstaltenden durch das zufällige Auslosen der Angemeldeten eine Art bevölkerungsrepräsentative Miniaturgesellschaft an. Die 25 Teilnehmenden deckten sich exakt mit den angemeldeten Personen. Ein Zusammenschluss aus möglichst vielfältigen Personengruppen mit unterschiedlichsten Perspektiven ergab sich allerdings kaum. Es fehlten sowohl Jugendliche als auch Personen, die sich zuvor kritisch zu den möglichen Maßnahmen der Stadt Kassel und dem Freiluftexperiment geäußert hatten.
“Für eine repräsentative und vielseitige Gruppe wäre zukünftig eine Teilnehmendenliste über das Melderegister der Stadt wünschenswert, da über diesen Weg mehr und unterschiedlichere Menschen erreicht werden können.”, regte Bönninger an.
Wünsche für einen attraktiven Ortskern
Welche Qualitäten einen attraktiven Ortskern aus stadtplanerischer Sicht ausmacht, stellte Jan Schindler vom Amt für Stadtplanung, Bauaufsicht und Denkmalschutz der Stadt Kassel vor. “Es zählt bereits der erste Eindruck. Man möchte direkt das Gefühl haben, dass hier etwas los ist.” Zur Schaffung eines ansprechenden Ortskerns mit einer bunten Vielfalt an Aktionen und Angeboten zähle so beispielsweise das Zusammenkommen von Nahversorgung, unterschiedlichen Wohnformen, Grünräumen und öffentliche Flächen an einem zentralen Ort.
Mit diesen Eindrücken im Hinterkopf, tauschten sich anschließend die Kirchditmolder:innen in einer ersten Arbeitsphase über ihre eigenen Vorstellungen aus und erstellten Thesen. So sprachen sie sich beispielsweise für eine entschleunigte Atmosphäre im Ortskern aus oder wünschten sich einen öffentlichen Raum für alle, der zufällige Begegnungen fördert. Mit Klebepunkten priorisierten die Teilnehmenden anschließend die Thesen. Deutlichen Zuspruch erhielt der Wunsch nach einem grundsätzlich gestalterisch ansprechenden Aufenthaltsort mit entschleunigter Atmosphäre, der sich mit den wechselnden Bedürfnissen der Gemeinde stetig mitentwickelt. Zugleich war die Sicherstellung der Versorgung, etwa durch Einkaufsmöglichkeiten, für die Teilnehmenden wichtig, ebenso wie ein ansprechender Treffpunkt zum Zusammenkommen.
Raum für alle Verkehrsteilnehmenden
Einen Einblick in den aktuellen Entwurfsstand des Mobilitätskonzepts der Stadt Kassel gab Moritz Gottschling vom Planungsbüro LK Argus Kassel GmbH.
Durch Methoden wie Bürger:innenbefragungen und Verkehrszählungen entwickelte die Stadt Kassel verschiedene Entwurfsvarianten. Die Verkehrszählungen stellten beispielsweise auf der Zentgrafenstraße einen starken Durchgangsverkehr fest. Während des Freiluftexperiments testete die Stadt, ob sich durch die temporäre Sperrung der Zentgrafenstraße zwischen Harleshäuser Straße und Am Opferhof für den Kfz-Verkehr eine Entspannung des Verkehrs einstellen würde. “Für eine langfristig gute Lösung braucht es aber auch die Beteiligung der Bürger:innen”, erklärte Gottschling. “Die Erfahrungen, die wir während des Freiluftexperiments sammeln, geben dabei wichtige Erkenntnisse für die weitere Planung. Wir legen uns dabei nicht auf eine bestimmte Variante fest, sondern sind dankbar für Anregungen aus der Bevölkerung.”
Entschleunigter Verkehr
In einer zweiten Arbeitsphase nahmen die Teilnehmenden vier aktuelle Entwurfsvarianten als Anstoß, um ihre eigenen Anforderungen an die Verkehrssituation zu erforschen. Es entstand sogleich ein lebhafter Austausch darüber, wie ein gutes Miteinander aller Verkehrsgruppen aussehen könnte. So müsse eine deutliche Stärkung des Fuß- und Radverkehr geschehen, ohne dabei den Autoverkehr gänzlich zu verbieten.
Wie viel Raumgewinn eine zweigleisige Schienenvariante auf Höhe der Zentgrafenstraße ermöglichen könnte, überraschte und stieß auf Zuspruch. Aktuell nehmen hier die eingleisigen Schienen, die breite Fahrbahn für den Autoverkehr und die Parkplätze viel Platz ein. Durch die Reduzierung des Autoverkehrs auf lediglich eine Fahrgasse auf für berechtigte Fahrzeuge oder das Verlegen der Fahrbahn auf die zweigleisigen Schienen, könne beispielsweise mehr Raum für Gehwege entstehen. “Wo Grün ist, entsteht mehr Atmosphäre”, sagte ein Teilnehmer, der sich eine schöne Begrünung der Gleise vorstellen konnte.
In der Zusammenlegung und Verschiebung der Haltestelle in den Süden, auf der Höhe der Apotheke, und der Konzentrierung der Parkplätze sahen die Teilnehmenden zudem eine schöne Möglichkeit, ein sicheres Umsteigen zu erleichtern und die Gehwege in beide Richtungen durchgängig zu vergrößern. So könne hier Raum ohne parkende Autos mit einem großzügigen Aufenthaltscharakter entstehen.
Beteiligung lohnt sich
“Man hat gesehen, dass hier die geballte Expertise sitzt”, freute sich Bönninger über die gesammelten Ideen. Die bei der Planungszelle anwesenden Kirchditmolder:innen hatten konkrete Vorstellungen darüber, wie ihr Ortskern und das Leben in Kirchditmold aussehen soll.
Durch die verschiedenen Beteiligungsformate vor und während des Freiluftexperiments zeichneten sie ihr Bild eines attraktiven Kirchditmolds und brachten sich mit ihren Wünschen und ihren Hinweisen aktiv in die laufenden Planungsprozesse ein. So können sie sich schon auf den Tag freuen, an dem sie sich mitten in Kirchditmold zufällig bei ihren alltäglichen Erledigungen treffen und dort, umgeben von viel Grün, auf schönen Sitzmöglichkeiten verweilen und sich dann in freier Atmosphäre, und ohne lauten Verkehr, darüber austauschen, dass sie ihr Kirchditmold mitgestaltet haben und sich das nun wirklich gelohnt hat.
Planungszelle
1970 entwickelte Peter C. Dienel mit der Planungszelle, ein ehemaliger deutscher Theologe und Professor für Soziologie, das Beratungsverfahren zur Verbesserung von Planungsentscheidungen. Öffentliche Träger wie beispielsweise Kommunen nutzen das Verfahren, um die Bürger:innen mit ihren Kompetenzen und Wissen an Entscheidungsprozessen zu öffentlichen Belangen zu beteiligen. Dabei erarbeiten 25 zufällig ausgewählte Bürger:innen in Kleingruppen Empfehlungen zu bestehenden Fragestellungen. Durch die regelmäßige Durchmischung der Gruppen soll sich eine faire Gesprächssituation ohne Bildung einer Meinungsführerschaft sicherstellen. Durch das gemeinsame Erarbeiten von Lösungen, der Priorisierungen der Ideen und durch ein mehrheitliches Abstimmen soll so ein aussagekräftiges Stimmungsbild aus der Bevölkerung entstehen.
GWÖ
Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell, welches innovative Lösungen für eine Auflösung von Ungleichheiten bei Einkommen, Vermögen und Macht erforscht. Weltweit widmen sich GWÖ-Arbeitsgruppen aus Unternehmen und Organisationen Themen, die das Wohl des Menschen und des Planeten fördern. In Kassel bildete sich 2018 eine Gruppe aus etwa 20 Personen, die sich für eine gerechte und nachhaltige Lebensgestaltung vor Ort einsetzen. Während offener Themenabenden können sich Bürger:innen bei der gemeinsamen Ideenfindung für mehr Gemeinwohl einbringen.
Unser Kassel 2030
Die Stadt Kassel möchte bis 2030 klimaneutral sein. „Unser Kassel 2030” entstand aus einer Kooperation aus Scientists for future und Klimagerechtigkeit Kassel und aktiviert Bürger:innen sich in den sozial-ökologischen Prozess der Stadt aktiv einzubringen. Dabei finden sich diverse Initiativen und Aktionen aus der Zivilgesellschaft unter dem Dachprojekt zusammen. Sie eint gemeinsame Ziele wie die Förderung des Klima- und Umweltschutzes und die Stärkung der Demokratie und sozialen Gerechtigkeit.
Text:
Helena Wolff
In der SprechZeit erläuterte Stadtbaurat Christof Nolda die Beweggründe der Stadt Kassel für das Freiluftexperiment. Nach Abschluss des Experiments zogen Ortsvorsteherin Elisabeth König und der designierte Oberbürgermeister Sven Schoeller ihr Fazit. Im StadtLabor erzählten Raamwerk von ihren Beteiligungsaktionen, die während des Experiments zum Mitmachen einluden.