Kleine Architekturen, große Bedeutung
Gemeinsam abhängen, sich unterhalten, Verbindungen schaffen: Acht über den Stadtraum verteilte Pavillons bieten als „reflecting points“ diese Möglichkeitsräume.
In Kooperation mit der documenta fifteen erarbeitete die Gruppe Kassel des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) acht über den Stadtraum verteilte Pavillons, die sogenannten reflecting points, über die Kassel selbst Teil der Ausstellung wird. Kuratierte Spaziergänge führen beispielsweise entlang der Fulda, an Ausstellungsorten und Cafés vorbei und durch die Karlsaue, wo sie an diesen reflecting points zum Sinnieren und Rasten einladen. Die Pavillons sind frei zugänglich und ein Besuch so auch in Eigenregie jederzeit möglich. „Nachhaltigkeit“ ist bei diesen kleinen Architekturen genauso ein Thema, wie es bei der gesamten Kunsttaustellung Einzug gehalten hat. „Es geht um nachhaltiges Bauen, um Baustoffe der Zukunft und um Energie aus der Vergangenheit“, sagte Christoph Hesse im Gespräch mit der Westfälischen Rundschau. Er ist einer der Architekt:innen und hat im Team mit Barbara Ettinger-Brinckmann vier dieser Pavillons entworfen. Weitere Planerinnen und Planer haben ebenso ihre Konzepte beigesteuert. Das KOHLEMUSEUM auf dem Friedrichsplatz beispielsweise kritisiert den späten Kohleausstieg, die Installation MARIA am Aueteich zeigt die verehrenden Folgen, die der Klimawandel bereits jetzt in Deutschland anrichtet. Das KIRI-Projekt am Hallenbad Ost macht auf ein schnell wachendes Baumaterial aufmerksam, das darüber hinaus keine Emissionen verursacht. Die meisten der acht Pavillons sind aus nachwachsenden Rohstoffen gebaut und werden nach der documenta in anderen Projekten wiederverwendet.
Interdisziplinär und gemeinschaftlich Arbeiten
Über ökologische Nachhaltigkeit hinaus liegt der Fokus der reflecting points auf dem sozialen Miteinander. Jeder der Räume ist ein Ort der Kommunikation, Reflexion und Begegnung verschiedener Menschen miteinander. Natürlich haben auch die Architektinnen und Architekten mit ihren Teams die mit der Ausstellung verbundene lumbung-Praxis, die interdisziplinäres und gemeinschaftliches Arbeiten an Projekten verlangt, bei den von ihnen entworfenen Kleinstarchitekturen selbst angewandt.
Reflecting Point 1: Silent Room
Im Hinterhof des ruruHauses, verborgen vor den Blicken neugieriger documenta-Gäste, steht auf einem Bodengemälde ein Baugerüst. Der Ort dient sonst vorwiegend als Park- und Lieferhof für die angrenzenden Geschäftshäuser. Für die Dauer der documenta fifteen entsteht hier ein Rückzugsraum für Künstler:innen, Personal und Gäste. Der Silent Room lädt, eingerahmt von fünfzehn Hochbeeten, in denen essbare Pflanzen wachsen, für Pausen, Gespräche und Feste ein. Im Laufe des Sommers werden diese Lebensmittel, ganz im Sinne der documenta fifteen, gemeinsam geerntet und in Kochaktionen verarbeitet. Das Bodengemälde des Kasseler KolorCubes e.V. überspielt mit seinen kräftigen Farben das Parkplatz-Milieu.
Entwurfsteam: Uwe Hoegen und Stefanie Kleppek (Baufrösche Architektur und Stadtplaner) Gerhard Greiner (HHS Planer+Architekten), Michael Triebswetter und Katharina Janusch (GTL Landschaftsarchitekten)
Reflecting Point 2: KOHLEMUSEUM
Direkt gegenüber der documenta-Halle, befindet sich ein schwarzer Quader mit grünem Innenleben. Ein kleines weißes Schild an seiner Außenseite deutet auf den Hintergrund der Installation hin: „Kohle gehört jetzt ins Museum, nicht erst 2038.“ Das KOHLEMUSEUM ist einer von vier reflecting points des Entwurfteams um Barbara Ettinger-Brinckmann und Christoph Hesse. Die Konstruktion besteht aus einem mit Kohlebriketts verkleideten Stahlgerüst. Die Grünpflanzen im Inneren machen den Raum zu einem kühlen Rückzugsort in der sich stauenden Sommerhitze auf dem Friedrichsplatz. Drei Sitzplätze, eingefasst in der Form eines Kleeblatts, die auf die Struktur des benachbarten Landschaftsparks Karlsaue verweist, laden zu Reflexion und Begegnung ein.
Entwurfsteam: Barbara Ettinger-Brinckmann (ANP Architektur- und Planung), Christoph Hesse (Christoph Hesse Architects)
Reflecting Point 3: KARLSAUGE
Vier Throne aus Holz, mit ihrem Blick aufeinander gerichtet, stehen auf einer kleinen Kuppe in einer Lichtung der Karlsaue. Die bewusste Lenkung des Blicks erzeugt eine vertiefente Wahrnehmung von Weite und Offenheit: nach außen mit seiner Ausrichtung auf Himmel, Erde und Zeit, nach innen mit seiner öffnenden Wirkung auf die Menschen, die den reflecting point im Vorbeigehen entdecken oder bewusst aufsuchen. Die umgebende Stille und Natur machen das KARLSAUGE zu einem Raum der Begegnung und Kontemplation. Die Gäste sind eingeladen, an der Ausgestaltung der Pavillons mitzuhelfen. Das Entwurfsteam hat dazu animiert, die Ritzen zwischen den gestapelten Restholzscheiten mit Laub auszustopfen. Dank der tatkräftigen Unterstützung von Besucher:innen ist das KARLSAUGE mittlerweile ein gut genutztes Insektenhotel.
Entwurfsteam: Barbara Ettinger-Brinckmann (ANP Architektur- und Planung), Christoph Hesse (Christoph Hesse Architects)
Reflecting Point 4: KOLLEKTIV
In der Aue, auf der barocken Sichtachse zwischen Orangerie und Tempel auf der Schwaneninsel, steht ein hölzerner Tunnel. Die Hordengatter, die die Grundlage der Konstruktion bilden, dienen in ihrer eigentlichen Funktion jungen Bäumen in Mischwäldern vor Verbiss in der Aufwuchsphase. Überragen nach sieben bis acht Jahren die Baumspitzen die Wildtiere, zerfallen die Hordengatter langsam zu Humus. Der reflecting point KOLLEKTIV verweist auf die Überlegenheit der Aufforstung resilienter Mischwälder gegenüber anfälligerer Nadelwälder. Im Inneren des Tunnels laden Sitzplätze zur Begegnung und Reflexion ein.
Entwurfsteam: Barbara Ettinger-Brinckmann (ANP Architektur- und Planung), Christoph Hesse (Christoph Hesse Architects)
Reflecting Point 5: MARIA
Vor 125 Jahren pflanzte Christoph Hesses Urgroßmutter Maria eine Fichte im Sauerland. Im letzten Dürresommer verdurstete der Baum in Folge des Klimawandels. Nun steht sein Stamm, in sieben Pfähle zerlegt, am Aueteich in Kassel. Eine Stahlbordüre, in Form angelehnt an die Karlsaue, bietet Sitzmöglichkeiten für die Gäste. Die Überreste der Fichte zeigen die Folgen des Klimawandels, die uns hier in Deutschland erwarten. Darüber hinaus verweisen sie auch auf regionale Verwurzlung und Verbundenheit. Der entstandene reflecting point MARIA ist ein Ort der Gemeinschaft, Erinnerung und Reflexion.
Entwurfsteam: Barbara Ettinger-Brinckmann (ANP Architektur- und Planung), Christoph Hesse (Christoph Hesse Architects)
Reflecting Point 6: Luftbad
Das Hiroshima-Ufer, der Punkt, an dem die Fulda der Kasseler Innenstadt am nächsten kommt, wird für die Bürger:innen Kassels und Besucher:innen der documenta erlebbar gemacht. Der reflecting point Luftbad schafft eine Infrastruktur zum Sonnen-, Luft- und Wasserbaden. Entlang eines Steges, der sich als Sitz- und Liegefläche nutzen lässt, siedeln sich Umkleidezellen aus Flechtwerk an. Der Eingangspavillon mit offener Nutzung komplettiert den Entwurf. Ganz im Sinne der documenta fifteen soll dieser Ort gemeinschaftlich genutzt werden für kollektive Erlebnisse und poetische Erfahrungen. Die Konstruktion besteht aus nachhaltigen, nachwachsenden oder recycelten Materialien, die sich nach Ende der documenta wieder ohne Abfall zurückbauen lassen.
Entwurfsteam: Markus Hanisch, Annika Seitz (punkt 4 architekten), Alexander Reichel, Nicola Seelbach, Sarah Metwally-Sadowsky (Reichel Architekten), Michael Volpert (LK Argus)
Reflecting Point 7: Kiri-Projekt
Ziel des Kiri-Projektes ist es, die Verbindung von Innenstadt und Kasseler Osten nachhaltig zu erhalten. Gleich zwei Mal geht der Entwurf auf die Vernachlässigung des Kasseler Ostens ein: Der pyramidenförmige Pavillon empfindet den Sockel des Herkules nach und verweist damit auf die Forderung nach mehr Kulturangeboten jenseits der Fulda. Der Catwalk, ein Steg vor dem Pavillon, macht als gedachte Verlängerung der Wilhelmshöher Allee auf die unzureichende verkehrliche Anbindung des Kasseler Ostens aufmerksam. Steg und Pavillon sind aus dem Holz des Kiribaums gefertigt, dem starkwüchsigsten Baum des Planeten – und gleichzeitig eine Holzart, die besonders viel CO2 bindet. Der BDA verschenkt zur documenta fifteen 100 Kiri-Baumsprösslinge an Besucher:innen. Die Initiative zur Stadtbegrünung soll auch über Kassel hinaus wachsen.
Entwurfsteam: John Kosmalla, Thomas Meyer, Marc Köhler und José Vilches Maraboli (KM Architekten)
Reflecting Point 8: Resting Ramp
Das Gelände Hafen 76 mit dem historischen und denkmalgeschützten ehemaligen Coop-Lagergebäude aus den 1920er-Jahren wurde kurzfristig als Ausstellungsraum der documenta fifteen hergerichtet. Für den barrierefreien Zugang braucht es im Hof eine lange Rampe, um die 1,40 m Höhenunterschied ins EG zu überwinden. Die Resting Ramp ist viel mehr als das: Die große schräge Ebene ist zugleich Eingang und Aufenthaltsort für alle Besucher:innen. Durch Möblierung entstehen unterschiedliche Sitzmöglichkeiten für große und kleine Gruppen. Bewegung, Begegnung und Beruhigung lassen vielfältige Nutzungen zu, die dem Ort einen eigenen Charakter verleihen. Das Dach über der Rampe besteht aus einem reversiblen Flechtwerk aus Dachlatten und Gerüstkonstruktion und ist sowohl Lichtspiel als auch Schattenspender. Das verbaute Holz wird nach der documenta der Solawi Gärtnerei Fuldaaue für den Bau einer Scheune zur Verfügung gestellt.
Entwurfsteam: Matthias Foitzik, Philipp Krebs (foundation 5+ architekten)
Texte: Marlena Multhaupt
18.08.2022
Ein Dankeschön an die Architektur- und Planungsbüros aus Kassel und Region, die die StadtZeit-Berichterstattung zu Themen rund um Architektur, Städtebau und Baukultur fördern.
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 111, Aug/Sept 2022
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