Pferdemarkt und Entenanger neu denken
Paul Bode-Preis erstmalig vergeben
Studierende des Fachbereichs Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel entwickelten Konzepte für die Quartiere „Pferdemarkt“ und „Entenanger. Die Leitfrage des erstmalig vergebenen Paul-Bode-Preises lautete: “Wie sollte ein öffentliches Wohnungsunternehmen, das seit vielen Jahren auf dem Kasseler Mietwohnungsmarkt mit relevanten Beständen vertreten ist und sich dabei stets auch der Wohnungsversorgung für weniger zahlungskräftige Haushalte verpflichtet gefühlt hat, seine Quartiersentwicklung für die Kasseler Innenstadt künftig ausrichten?”
Die mittendrin dokumentiert im Folgenden die drei ausgezeichneten Arbeiten des 2019 erstmalig vergebenen Preises und stellt die Aufgabenstellung vor.
Hier darüber hinaus zu hören: Eine Einschätzung der Arbeiten von Prof. Uwe Altrock, der die Entwürfe zusammen mit anderen Expertinnen und Experten betreut und begleitet hat. Aufgrund der aktuellen Situation fand das Gespräch per Telefon statt.
Aufgabenstellung/Hintergrund Paul Bode-Preis
In der wiederaufgebauten Altstadt von Kassel verfügt die Wohnstadt über etwa 260 Wohnungen aus den Jahren 1952-1958. Diese verteilen sich auf die beiden Quartiere „Pferdemarkt“ und „Entenanger“, wobei der Schwerpunkt in ersterem liegt.
Beide Quartiere sind im Wesentlichen gemäß Planungen zum Wiederaufbau des zerstörten Stadtkerns aus den 1940er Jahren errichtet worden. Sie zeichnen sich durch einen hohen Wohnanteil in Blockrandbebauung mit begrünten Innenhöfen aus. In ihnen wohnen vorrangig Haushalte mit niedrigen oder mittleren Einkommen.
Beiden Quartieren kommt eine wichtige Bedeutung bei der Sicherung preiswerten Wohnraums in zentraler Lage in der Stadt zu. Angesichts des aktuellen Erhaltungszustands und im Rahmen seiner Portfolio-Strategie entschloss sich der Wohnstadt, ab den Jahren 2022/2023 erhebliche Investitionen zur Instandhaltung, Modernisierung und Weiterentwicklung der Bestände um den Pferdemarkt vorzunehmen.
Um die angestrebten Maßnahmen in einen sinnvollen und zukunftsweisenden Rahmen einzubetten, ist es erforderlich, über die einzelnen Wohngebäude hinaus Überlegungen zur mittel- und langfristigen Strategie der Wohnstadt für die Kasseler Innenstadt anzustellen. Beiträge hierzu sollen die studentischen Arbeiten leisten.
Gewünscht waren Arbeiten zu den Themenkomplexen Bestandsprofilierung, Städtebau und Stadtentwicklung, Architektur, Freiraumplanung und Wohnungswirtschaft.
Der Paul Bode-Preis wird für bemerkenswerte studentische Arbeiten vergeben, die besondere Qualität zeigen und die sich in besonderer Weise mit dem sozial orientierten Wohnungs-, Siedlungs- und Städtebau auseinandersetzt.
Mit dem Paul-Bode-Preis soll der Austausch zwischen der Universität Kassel, der Stadt Kassel und der Nassauische Heimstätte/Wohnstadt GmbH gefördert werden.
Teilnahmeberechtigt sind Studierende der Universität Kassel.
Neue Wohn(stadt)qualität für die Altstadthöfe
Das Vorhandene stärken und weiterentwickeln: Johanna Thiele und Florian Ridder setzen darauf, die Wohnqualität durch die Aufwertung der Altstadthöfe zu steigern.
Die Quartiere Pferdemarkt und Entenanger südlich des Königsplatzes entstanden auf dem Areal der ehemaligen Kasseler Altstadt, die im zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die Nachkriegsplaner lösten die Parzellierung der Altstadt auf, womit in diesem Bereich eine drei- bis fünfgeschossige Blockrandbebauung entstand.
Innerhalb der Wohnblöcke bilden sich auch heute noch große Innenhöfe mit einem relativ hohen Grünanteil aus. Dies ist für ein innerstädtisches Quartier ungewöhnlich und eine enorme Qualität. Zudem liegt das Quartier sehr verkehrsgünstig, sowohl für den öffentlichen Nahverkehr als auch Autoverkehr, aber dennoch ruhig. Vor allem die Potentiale der Innenhöfe mit ihrer hohen Freiflächenversorgung werden kaum genutzt.
Vorhandenes stärken und weiterentwickeln
Das Konzept stärkt die Potentiale der Innenhöfe und enthält einen Maßnahmenkatalog, der der ‘Nassauische Heimstätte | Wohnstadt’ und anderen Eigentümer*innen als Leitfaden dient. Das vorgeschlagene Konzept erhält das Vorhandene, stärkt und entwickelt es weiter. Dabei bleibt der individuelle Charakter, der hohe Grünanteil, die Aneignung von Bewohner*innen einzelner kleiner Flächen und Kunstobjekten wie die Bäume des documenta-Kunstwerkes “7000 Eichen”, erhalten bleiben. Ziel der Entwurfsverfasser ist es, die Wohnqualität durch die Aufwertung der Altstadthöfe zu steigern und gleichzeitig eine Anpassung an den Klimawandel zu gewährleisten. Dabei ist der Wohnungsgesellschaft ‘Nassauische Heimstätte | Wohnstadt’, als eine der größten Wohnungseigentümer in den Quartieren Entenanger und Pferdemarkt, eine Vorreiterrolle zugedacht.
Grafik: Darstellung Maßnahmenkatalog: Konzeptbausteine und Anwendung
Die entwickelten Einzelmaßnahmen fanden Anwendung in beiden Quartiere. Die planerische Umsetzung dieser Maßnahmen wird beispielhaft auf drei Innenhöfe angewendet und in detaillierte Entwürfe übersetzt. Grund für die Auswahl dieser Höfe ist der große zusammenhängende Wohnungsbestand der ‘Nassauische Heimstätte | Wohnstadt’. Hierdurch ist eine großflächige, unkomplizierte und schnelle Realisierbarkeit möglich, der sich andere Eigentümer*innen anschließen können.
Grafik oben: Darstellung Lageplan_Schnitte_Geschäftige: Öffnung des Innenhofes für neue, kleingewerbliche Nutzungen im Entenanger (Oberste Gasse / Steinweg), nicht genordet
Grafik unten: Darstellung Der Gemeinschaftliche_Vogelperspektive: Innenhofgestaltung zur gemeinschaftlichen Nutzung für die Nachbarschaft am Pferdemarkt (Müllergasse / Bremer Straße)
Von autogerecht zu fußgängergerecht
Umsatteln: Ein drastischer Umbau der Kurt-Schumacher-Straße ist nötig, um das Pferdemarktquartier wieder näher an die Kasseler Innenstadt zu rücken!
In den Augen von Maria Winkler und Julia Dächert ist dies nur durch eine Verengung der breiten Verkehrsachse möglich.
Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, stehen im Fokus des städtebaulichen Entwurfs für das Pferdemarktviertel und den angrenzenden Entenanger. Wegen der zentralen Lage des Gebiets zwischen Innenstadt, Universität und der Fulda sind Freizeitziele und Orte für den täglichen Bedarf zu Fuß oder mit dem ÖPNV problemlos zu erreichen.
Durch den autogerechten Wiederaufbau Kassels entstanden um das Pferdemarktquartier, das im Zentrum der ehemaligen Altstadt liegt, stark befahrene Verkehrsachsen, wie die Kurt-Schumacher-Straße, die Kurt-Wolters-Straße und die Weserstraße. Diese haben zur inselartigen Isolierung des Quartiers geführt, so dass es sich in eine „Schlafstadt“ verwandelte. Besonders die Kurt-Schumacher-Straße stellt eine für Passantinnen und Passanten fast unüberwindbare Barriere zwischen den Quartieren dar, die der „Riegel“ des Hansa-Hauses noch zusätzlich verstärkt. Dieses in den 1960er-Jahren errichtete Gebäudeensemble sticht durch seine „autistische“ Architektur negativ ins Auge, da es sich weder in die sonst homogene Umgebungsbebauung eingliedert noch eine einfache Wegeverbindung von der Innenstadt zur Universität zulässt. Diese Wegeverbindung bildet die Ausgangsbedingung des Entwurfs: Durch Umgestaltung des Straßenraums der Kurt-Schumacher-Straße und einen Rückbau des Hansa-Hauses entsteht an der Schnittstelle zwischen den beiden Quartieren Entenanger und Pferdemarkt die Initialzündung für eine künftige positive Entwicklung des Gebiets.
Durch Verschmälern des Straßenraums und Einführung einer Tempo-30-Zone entsteht ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den Verkehrsteilnehmern, wovon vor allem jene profitieren, die zu Fuß gehen. Der gewonnene Raum eröffnet Möglichkeiten einer neuen Bebauung mit raumbildender Gestalt. Es entstehen gefasste Plätze mit leitenden Kanten, die auf Passanten attraktiv und interessant wirken.
Belebung durch Mischung
Durch die belebende Nutzung an der zentralen Schnittstelle der Quartiere entsteht ein Anziehungspunkt für Bewohner und Besucher. Dazu gehören auch solche, die für eine öffentliche Erdgeschoss-Zone sorgen: Gastronomie, Nahversorger und Kleingewerbe, darüber hinaus ein Hostel und Studentenwohnheim sowie Raum für Co-Working-Space. Der größte Teil der neuen Gebäudefläche dient jedoch dem Wohnen in unterschiedlichsten Formen, etwa Mikro-Appartements oder Wohngemeinschaften. Zusätzlich wird die Straßenbahnhaltestelle des Altmarkts an den neuen zentralen Paul-Bode-Platz verlagert, um so eine bessere Anbindung zu gewährleisten. Die Gestaltung des öffentlichen Raums passt sich vor allem an die Bedürfnisse des Menschen auf seinen eigenen zwei Beinen an, denn jeder tägliche Weg beginnt und endet zu Fuß. Sitzgelegenheiten, ein Witterungsschutz in Form von Arkaden und die visuelle Priorisierung des Fußwegs tragen ebenfalls zum fußgängerfreundlichen Entwurf bei. Diese Schritte bilden den Ausgangspunkt für eine fußgängergerechte Entwicklung des Pferdemarkts.
Im Konzept ist vorgesehen, dass weitere Handlungen folgen, etwa die Nachverdichtung im Bestand und die Gestaltung des gesamten öffentlichen Raums im Quartier. Den Abschluss der Maßnahmen bildet die Steigerung der Attraktivität von Bestandsgebäuden und Fassaden. Der aufrechtstehende und gehende Mensch ist in diesem Konzept der Maßstab der Stadtgestaltung. Eine positive Entwicklung für Menschen zu Fuß bedeutet eine positive Entwicklung für den Stadtraum, denn der Mensch selbst ist es, der belebt, der einkauft, sich austauscht und handelt.
Grafik oben: Blick vom Balkon auf die Kurt-Schumacher-Straße
Grafik mitte:Lageplan
Grafik unten: Schematischer-Straßenschnitt
Atmosphäre des „Wohnens im Grünen“
Mit einem rückwertigen Erweitungsbau, der Neustrukturierung des Innenhofbereichs und neuen, modernen Grundrisstypologien wollen Jeroen Erhardt und Niclas Garotti eine besonders diverse Bewohnung ermöglichen.
Als Herangehensweise an die Aufgabenstellung des Paul Bode Preises haben sich die Entwurfsverfasser drei Themenkomplexen angenähert:
Analyse:
Die Innenhöfe der Wohnstadt zugehörigen Wohnungen am Pferdemarkt weisen eine außergewöhnlich große Grünfläche auf, welche in Bezug auf die Nähe zur direkten Innenstadt Kassels als hohe Qualität gesehen werden kann und weiter hervorgehoben werden sollte. Die serielle Bauweise der Nachkriegszeit verhindert eine vielfältige Grundrissstruktur und eine damit verbundene Diversität an möglichen Bewohner*innen.
Entwurf:
Ein rückwertiger Erweitungsbau in Modulbauweise mit Neustrukturierung des Innenhofbereichs und neuen, modernen Grundrisstypologien erlaubt eine besonders diverse Bewohnung. Ein anschließender Laubengang ersetzt das Treppenhaus und sorgt für mehr Begegnung unter den Bewohner*innen bei direktem Bezug zum Innenhof, sowie einem hohen Anteil an barrierefreien Wohnungen durch Aufzüge. Gemeinschaftsgärten, Spielplätze und eine Umnutzung der Garagen zu Gemeinschaftsräumen/Werkstätten/Fahrradabstellplätzen schaffen zusätzliche Begegnungsmöglichkeiten. Die zur Straße gewandte Häuserfront des unter Ensembleschutz stehenden Blocks (außerhalb des Blocks) wird lediglich durch Dämmung energetisch saniert und behält so ihre Authentizität und Identifikation für die Mieter*innen und das Quartier.
Klimaneutralität:
Durch Solarpanele auf den Dächern, sowie parzielle Begrünung transformiert sich der Block zu einer grünen Oase. E-Mobilität und Carsharing in den Höfen für die Bewohner*innen tragen zu einem geringeren Verkehrsaufkommen innerhalb des Quartiers bei.
Die Atmosphäre des „Wohnens im Grünen“ spüren
Der Häuser-Block weist eine große Grünfläche im Inneren und monotone Wohntypen auf. Gerade die für den Bereich der Innenstadt sehr luftige Freifläche bietet wenig Aufenthaltsqualität. Dies liegt vor allem an fehlenden Nutzungen, großen Stellplatzflächen sowie einer nicht vorhandenen Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum. Durch die serielle Bauweise der Nachkriegszeit sind im ganzen Block homogene Grundrisse vorhanden. Diese haben sich seit den 1960er-Jahren nicht wesentlich verändert. Wintergärten, Loggien, direkte Zugänge aus den Wohnungen in den Blockinnen- und Freibereich, freie und offene Wohnungsgrungrisse sowie die heute geforderte Barrierefreiheit oder auch Aufzüge fehlen. Grundgedanke des Entwurfs sind ein rückwertiger Erweiterungsbau in Modulbauweise, sowie eine Neustrukturierung des Blockinnenbereichs. Der Erweiterungsbau kann eine vollwertige Erweiterung oder thermisch getrennt sein. Er bricht zusammen mit neuen, modernen Grundrisstypologien und einem Ausbau des Dachstuhls die alte Monostruktur des Blocks auf. Ein daran anschließender Laubengang, der die alte Erschließung ersetzt, schafft Begegnung unter den Bewohner*innen und gewährleistet einen direkten Bezug zum Innenhof. Zudem wird über sechs Fahrstühle ein Großteil des Blocks barrierefrei erschließbar. Über die Neustrukturierung des Innenhofs entstehen private Freiräume sowie ein wohnungsnahes Angebot an Gemeinschaftsflächen, wie beispielsweise Spielplätzen und Gemeinschafsgärten. Dies wird ergänzt durch die Umnutzung einiger ehemaliger Garagen zu Gemeinschaftsräumen wie z.B. einer Werkstatt oder einem Fahrradabstellplatz. Ingesamt sind der neue Anbau und der Freiraum so miteinander verzahnt, dass im ganzen
Block die Atmosphäre des „Wohnens im Grünen“ spürbar wird. Das Konzept ist dabei in seinen Grundsätzen auch auf umliegende Blöcke anwendbar.
Zur Straße hin werden an dem unter Ensembleschutz stehenden Block lediglich reduzierte bauliche Eingriffe, wie zum Beispiel eine Dämmung, getätigt. Dadurch fügt sich der Block weiterhin gut in Kontext des weiteren Gebietes ein, ohne dass das Quartier an Authentizität und die Mieter*innen ihre Identifikation mit der Nachbarschaft verlieren.
Grafik oben: Visualisierung des Konzeptes
Grafik mitte: Innenhofkonzept
Grafik unten: Schema Individualität und Gemeinschaft