Rauhnächte
Ein kostbares Geschenk an uns selbst
Mitten im Winter, kurz vor Jahresende, liegt die dunkelste Zeit des Jahres. Uralte Bräuche helfen uns auch heute noch, es der Natur gleich zu tun: zur Ruhe kommen, sich auf das Wesentliche konzentrieren, Bilanz ziehen und sich auf das Neue vorbereiten.
Eine dunkle Straße im Winter irgendwo in Süddeutschland. Es ist kalt; Rauchschwaden wabern die Straße entlang. Stellenweise erhellen lodernde Flammen und rotsprühende Lichter die Dunkelheit. Düstere Klänge sind zu hören. Aus den Rauchschwaden tauchen furchteinflößende Gestalten auf und ziehen lärmend die Straße entlang. Wahre Ausgeburten der Hölle, behangen mit Fell, teuflisch anzusehen mit ihren hässlichen blutrünstigen Fratzen, Reißzähnen und Hörnern. Sie führen allerlei Glocken, Schellen und Peitschen mit sich und machen Krach, treiben ihr Unwesen und lehren denjenigen, der sie zu Gesicht bekommt, das Fürchten. Abseits hinter einer Absperrung säumt indes eine Menschenmenge die Straße.
Die Menschen sind gekommen, um sich unterhalten zu lassen. Einige halten ihr Smartphone auf die Wesen, um die wilde Show festzuhalten, die diese vor ihren Augen aufführen: den traditionellen „Perchtenlauf“. Unter der archaischen Kostümierung stecken zumeist junge Männer, die mit dieser wilden Prozession die jahrhundertealte Tradition des Perchtenlaufs fortführen, der dazu dient, die Dämonen des Winters auszutreiben. Heutzutage sind Perchtenläufe ein beliebtes Spektakel. Sie gehören wohl zu den bekanntesten Bräuchen der Rauhnächte im Alpenraum.
Eine Zeit ausserhalb der Zeit
Als Rauhnächte – auch „Zwölften“ genannt – werden die zwölf Nächte
zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar bezeichnet. Für die
Wortherkunft gibt es verschiedene Erklärungen: Der Name könnte sich schlicht auf das kalte „raue“ Wetter im Winter beziehen, oder aber auf den Brauch des Räucherns, den die Menschen traditionell während dieser Zeit praktizierten, um die Ställe und Stuben zu reinigen und gegen bösen Zauber zu schützen. Andererseits bezieht sich das Wort „Rauch“ – abgeleitet vom mittelhochdeutschen „ruch“ für haarig oder pelzig – auch auf Pelzwaren und deutet auf den alten Glauben, dass während der Rauhnächte mit Fell behangene Dämonen umherziehen und ihr Unwesen treiben. Es ist die Zeit „zwischen den Jahren“. Dieser Ausdruck geht auf die Differenz zwischen dem Sonnenkalender mit seinen 365 Tagen und dem älteren Mondkalender zurück, der nur 354 Tage zählt. Diese besondere Zeit wird auch als „Zeit außerhalb der Zeit“ oder als „geschenkte Zeit“ bezeichnet. Sie liegt mitten im Winter, in der kältesten und dunkelsten Zeit des Jahres, in der die Natur zur Ruhe kommt, um Kräfte zu sammeln für das Kommende. In früheren Zeiten lebten die Menschen viel mehr als heute im Einklang mit der Natur und hingen stärker von ihr ab. So war etwa das Wetter bestimmend für die Abläufe und den Ertrag der Landwirtschaft und somit überlebenswichtig. Da auch die Arbeit auf den Feldern im Winter ruhte und es noch keine Energie in Form von elektrischem Strom oder Zentralheizungen gab, mussten auch die Menschen gezwungenermaßen zur Ruhe kommen und sich dem natürlichen Rhythmus anpassen.
Durchlässigere Grenzen zwischen den Welten
Die Natur konnte damals sehr bedrohlich sein, gerade in der Alpenregion, wenn Schneemassen die Menschen auf den Höfen einschlossen und die Winterstürme um die Häuser pfiffen. Es ist auch die Zeit, in der die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und derjenigen der Ahnen, des Spirituellen und der Magie durchlässiger werden. Die Menschen damals glaubten an Dämonen und andere übersinnliche Wesen, was sich in den Rauhnächten insbesondere in dem Volksglauben an die „Wilde Jagd“ niederschlug. Ein Geisterheer samt Rössern und Hunden, angeführt vom Göttervater Odin und seiner Frau Freya – je nach Region auch Frigga, Berchta (Perchta) oder Frau Holle genannt – jagte über den Himmel und verbreitete Schrecken. Gleichzeitig standen diese Wesen aber auch für Fruchtbarkeit und Wachstum. Um die Dämonen und Naturwesen nicht zu erzürnen, sondern gnädig zu stimmen, galt es während der
Rauhnächte eine ganze Reihe von Verhaltensvorschriften und Ritualen einzuhalten. So sollte man sich während dieser Zeit ruhig verhalten, Streit vermeiden und Ordnung im Haus halten. Kinder wurden angehalten, lautes Spielen und Toben zu unterlassen. Auch durften Frauen und kleine Kinder nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr nach draußen gehen. Man durfte keine Wäscheleinen vor dem Haus aufspannen, um gewaschene Wäsche zum Trocknen aufzuhängen, da sich umherziehende Dämonen der Wilden Jagd in diesen verfangen und Unheil über das Haus und seine Bewohnerinnen und Bewohner bringen konnten. Die Menschen trafen sich am Abend in ihren Häusern in der einzigen beheizten Stube vor dem Kamin und erzählten sich bei Kerzenschein Märchen und Sagen aus alter Zeit. Traditionell führten sie Räucherrituale aus und befragten Orakel. Jede der zwölf Rauhnächte steht dem Glauben nach mit einem Monat des kommenden Jahres in Verbindung; die erste Rauhnacht symbolisiert den Januar, die zweite den Februar, usw.
Bilanz ziehen und sich auf das Neue vorbereiten
Heute hat „die Zeit zwischen den Jahren“ ihren Schrecken verloren, doch noch immer ist sie besonders für die Menschen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Zumeist verstehen wir heute darunter die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Das große Fest der Familie ist vorüber und bis Silvester, dem nächsten großen Event am Jahresende, sind es noch ein paar Tage hin, in denen meistens nicht viel passiert. Viele Berufstätige haben ein paar Tage Urlaub genommen, manche Firmen machen Betriebsferien, die Unis, die Schulen und Kindereinrichtungen sind geschlossen.
Die Tage sind kurz und die langen dunklen Abende laden dazu ein, Zeit mit der Familie zu verbringen, zur Ruhe zu kommen und Abstand zu gewinnen vom lauten, hektischen Vorweihnachtstrubel. Auch wenn das Winterwetter schon lange nicht mehr so kalt und rau wie früher ist, bietet die Zeit der Rauhnächte eine gute Gelegenheit, nach innen zu blicken und sich wieder auf das Wesentliche zu besinnen, anstatt sich all den äußerlichen Ablenkungen der modernen Welt hinzugeben. Die Rauhnächte sind auch heute noch eine Einladung an uns, Bilanz über das vergangene Jahr zu ziehen, eigene Wünsche und Ziele zu reflektieren und sich innerlich auf das Neue vorzubereiten. Diese Zeit lässt sich ganz individuell gestalten, doch kann uns manch alter Rauhnachts-Brauch dabei unterstützen. Eine gute Vorbereitung auf die Zeit der Rauhnächte ist es, Dinge abzuschließen. Dazu sollte man ausgeliehene Gegenstände wieder zurückbringen, Schulden begleichen und Unstimmigkeiten in den Beziehungen mit unseren Mitmenschen durch Aussprache aus der Welt schaffen. Da die Rauhnächte eine Zeit des Rückzugs und der inneren Einkehr sind, eignen sich Meditationsübungen zur Besinnung sehr gut. Dazu zündet man sich idealerweise Kerzen an. Auch Räucherrituale unterstützen eine besinnliche und feierliche Atmosphäre. Ein schönes Rauhnachts-Ritual für unsere moderne Zeit ist das der „13 Wünsche“: Vor Beginn der Rauhnächte schreibt man auf dreizehn Zettelchen je einen Wunsch für das kommende Jahr, faltet sie zusammen und verwahrt sie in einem Säckchen. In jeder der zwölf Rauhnächte zieht man einen der Zettel und verbrennt diesen feierlich – ohne ihn vorher noch einmal gelesen zu haben – und übergibt ihn damit dem „Universum“, das die Wünsche für uns erfüllt. Das 13. Zettelchen, das am 6. Januar noch übrigbleibt, darf man lesen, denn für seine Erfüllung ist man dann im Laufe des neuen Jahres selbst verantwortlich.
14.12.2022
Autorin:
Rosemarie Rohde
Auch zu lesen im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 113, Dezember/Januar 2022/23
>> hier zu lesen