Rollender Supermarkt
Nordhessen testet neue Formen der Versorgung auf dem Land
Er existiert noch im Volksmund, in alten Filmen oder Büchern, doch im Jahr 2023 ist der gute alte „Tante-Emma-Laden“ vielerorts ausgestorben. Sein Verschwinden ist ein Symptom der Landflucht, ein Prozess bei dem es junge Menschen aus den ländlichen Regionen mehr und mehr in die Städte und zieht. Viele kleine Dorf-Läden können sich aufgrund zu geringer Nachfrage und Mindestbestellmengen der Lieferanten, nicht länger finanzieren und müssen schließen. Vor Allem für Landbewohner:innen ohne Führerschein oder mit sonstig eingeschränkter Mobilität, ist dies verheerend. Eine mögliche Lösung soll ein Pilotprojekt in Nordhessen testen. Ein umgebauter Linienbus beliefert vierzehn Dörfer in der Region mit Produkten des täglichen Bedarfs.
Wie der Supermarkt auf Rädern funktioniert
Seit Ende März ist der Einkaufsbus auf den Straßen Nordhessens unterwegs. Der umgebaute Linienbus befördert keine Menschen, sondern Produkte des täglichen Bedarfs von A nach B. Das Projekt ist eine Kooperation der Deutschen Bahn mit einem großen Supermarktunternehmen und erst mal nur ein Pilotprojekt. Zwei Jahre lang wird er vierzehn Gemeinden beliefern. Von Montag bis Samstag stoppt er täglich und an festen Uhrzeiten in zwei bis drei Ortschaften in den Landkreisen Kassel, Schwalm-Eder und Waldeck-Frankenberg. Die Entwickler:innen präsentierten den Bus erstmals im Januar auf der Grünen Woche in Berlin. Das Angebot umfasst 700 verschiedene Produkte, die von frischem Obst und Gemüse über Frischwaren, Tiefkühlprodukte bis hin zu Kosmetik und Getränken reichen. Ein Fokus liegt auf Fairtrade und regionale Produkte. So bietet der rollende Supermarkt viele Produkte mit den Qualitäts- und Herkunftszeichen „Geprüfte Qualität Hessen“ und „Bio aus Hessen“. Lebensmittel Produzent:innen aus der Region liefern direkt an den Bus oder stellen auch schon mal ihren eigenen Verkaufsstand neben dem mobilen Supermarkt auf.
Einkaufen auf dem Land neu gedacht
Nach wie vor ist das Auto das Fortbewegungsmittel Nummer eins in ländlichen Regionen. Mangelhafte Infrastrukturen sorgen für eine Abhängigkeit vom PKW. Menschen, die sich kein Auto leisten, oder es aus gesundheitlichen oder Altersgründen nicht nutzen können, sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. Der Einkaufsbus kann zwar nur einen kleinen Teil dieses großen Problems lösen, ist jedoch ein guter Ansatz um sowohl nachhaltigeres als auch zugänglicheres Einkaufen in den belieferten Dörfern zu ermöglichen. So meint auch Frank Klingenhöfer, Vorstand der DB Regio AG: „Der Einkaufs-Bus soll in ländlichen Gebieten eine alltagstaugliche Alternative zum Auto werden. Wenn unser Bus die Dinge des täglichen Bedarfs in den Ort bringt, muss niemand mehr in die nächste Stadt fahren. Das ist nicht nur bequem, sondern auch klimafreundlich und sichert qualitativ hochwertige Versorgung in der Fläche.“
Die Idee eines mobilen Supermarktes ist nicht neu. Fahrende Bäckereien und Händler, bei denen Tiefkühlwaren im Katalog bestellt werden konnten, sind lange dörfliche Tradition gewesen. Schon Ende 2021 gab es ein ähnliches Projekt was als Vorläufer der Einkaufsbusse gilt. Der faire Einkaufszug fuhr über die hessischen Schienen und belieferte über Kassel hinaus, viele weitere Orte im Bundesland. Um nun vor allem die ländliche Bevölkerung zu erreichen, die oft auch keinen Zugang zu einem Bahnhof haben, war der Einkaufsbus der nächste logische Schritt.
Eine Idee aus der Vergangenheit, modern umgesetzt
Es gibt jedoch auch viele andere Projekte, die das Problem der fehlenden Nahversorgung auf dem Land lösen wollen. Ein Projekt in sieben Gemeinden, im Westen Kassels names „Lebens.Mittel.Punkte“ setzte sich als Ziel die Möglichkeiten von dörflichen Mittel- und Gemeinschaftspunkten in verschiedenen Gemeinden auszuloten und erhielt dafür eine Förderung des Programms „LandVersorgt“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Dabei wurde, in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Ökologische Landwirtschaft der Universität Kassel, eine Machbarkeitsstudie durchgeführt. Basierend auf diesen Ergebnissen verfolgte Lebens.Mittel.Punkte eine Idee, die sich auf traditionelle Gefrierhaus-Gemeinschaften bezieht. Zentrale Abholstationen mit Schließfächern, die an einen Online-Shop gekoppelt sind, sollen die Nahversorgung für Bewohner:innen erleichtern und darüber hinaus auch Erzeuger:innen und Einzelhandel der Region stärken. Dafür beziehen die „Lebens.Mittel. Punkte“ ihre Produkte von Produzent:innen und Einzelhandelsanbieter:innen aus der unmittelbaren Umgebung. Durch die kurzen Lieferwege lassen sich so Emissionen einsparen. Bewohner:innen holen ihre Lebensmittel in Pfandboxen ab, wodurch sie außerdem Verpackungsmüll vermeiden. Projektleiterin Ribana Bergmann legt dabei besonderen Fokus auf die Bedeutung eines zentralen Abholortes als Raum für gemeinschaftliche Aktivitäten.
Einkaufen sorgt für Gemeinschaft
Über den Nachhaltigkeitsgedanken hinaus verfolgen sowohl der Einkaufsbus, als auch die Abholstation der „Lebens.Mittel. Punkte“ einen sozialen Nebeneffekt. Mit dem Verschwinden von Einkaufsläden, geht auch das Verschwinden von Treffpunkten im Dorf einher. Ein kleiner Plausch nach dem Wocheneinkauf, wirkt wie ein banaler Alltagsmoment, ist aber ein wertvoller und wichtiger Austausch für Dorfbewohner:innen. Der Einkaufs-Bus wurde ebenfalls als eine Unterform des Projektes „Lebens.Mittel. Punkte“, entwickelt. Die Idee der zentralen Abholstationen, die im Gegensatz zum rollenden Supermarkt jederzeit zugänglich sind, verfolgen die Initiator:innen parallel weiter. Was die beiden Ideen verbindet, ist der Rückbezug auf Lösungen aus der Vergangenheit. Um die Nahversorgung auf dem Land zu sichern, muss man das Rad nicht neu erfinden. Vertraute Konzepte mit neuem Blick anzupacken und dabei stets in Gespräch mit der Bevölkerung zu bleiben ist die Devise. Damit das Leben auf dem Land attraktiv bleibt muss die Infrastruktur vorhanden sein. Ob auf Rädern, Schienen oder in Pfandboxen: die Lebensmittelversorgung in Nordhessen hat eine Zukunft.
09.08.2023
Text:
Edda Rumpel
Wo in der Region der Einkaufs-Bus Halt macht, lesen Sie auch im StadtZeit Kassel Magazin,
Ausgabe 116, Juni/Juli 2023