Teilen ist das neue Haben
Kühne These. Oder? Klicken wir uns mal kurz rein in die Behauptung und halten Ausschau nach möglichen Vorbildern, die dieser Idee folgen.
Während einer Yogastunde beginnt ein überraschendes Gespräch. Eigentlich sind wir aufmerksam in die Abläufe der Körper- und Atemübungen vertieft, da seufzt eine Teilnehmerin. Ich frage Sigrid, ob sie etwas braucht. Sie blickt in die Runde, stöhnt leise und sagt dann: „Mein Körper fühlt sich so alt an. Und meine Ohren werden auch immer größer. Ich brauche unbedingt eine neue Frisur, sonst kann ich mich im Spiegel nicht mehr ertragen.“ Wir sind berührt und verabreden einen empathischen Austausch im Anschluss an die körperliche Praxis. Diese einfühlsamen Erforschungen von persönlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen gehören bei Bedarf und manchmal auch als spontaner Impuls zu unseren Yogaeinheiten. Mit aufmerksamem Zuhören und Bezügen zur Yogaphilosophie öffnet sich ein Resonanzraum, in dem wir alle Platz finden. Wir sprechen diesmal über Veränderungen, hinterfragen Idealbilder und gesellschaftlich anerkannte Rollen von Menschen, die schon 60 Jahre und älter sind. Wir erzählen von Bedürfnissen und Wertschätzung, von Vielfalt und Wertewandel. Wir teilen Beobachtungen, von uns selbst, von der Natur, von den Wiesen, Feldern und Wäldern. Der Austausch mündet in erstaunlich wesentliche Fragen. Hat mein Leben wirklich einen tieferen Sinn und wozu bin ich hier? Was bleibt von mir, wenn ich sterbe? Was kann ich den jüngeren Generationen jetzt schenken oder mit gutem Gefühl überlassen? Wer sind meine Vorbilder?
Regenerative Kulturen des Miteinanders pflegen
Lorena spricht von ihrer Mutter: „Sie war eine starke, mitfühlende Persönlichkeit, deren aufrichtige Haltung Mut verströmte. Sie hegte einen Selbstversorgergarten, der irgendwie anders war, als die Gärten der Nachbarn, etwas wilder und bunt gemischt. Man fand sie oft dort, einfach nur ruhig sitzend, Pflanzen, Tiere, Licht und Schatten beobachtend. Wir Kinder waren gerne bei ihr, denn sie hatte viele Geschichten für uns. Eine handelte vom Teilen und wie dadurch Leben auf die Erde kam. Sie wurde nie müde unser Verständnis von Sein, von Werden und Vergehen mit Beispielen aus ihrem besonderen Garten zu wecken und zu nähren. Meine Mutter war sorgsam mit allen Lebewesen, mit dem Erdboden und mit Wasser. Sie war für die Menschen da und kümmerte sich um Gemeinschaft. Sie teilte, was sie hatte. Ihre Ernte, ihre Ideen, ihre Warmherzigkeit. Der Garten war ihr Vorbild und ich glaube, heute würde man sagen, sie stand ein für eine regenerative Kultur des Miteinanders.“
Solidarische Gemeinschaften bilden
Da ist ein ganz leises Innehalten in unserer Runde. Wir lauschen noch ein Weilchen dem, was in uns auftauchen mag. Neben mir sitzt Felizitas. Sie beginnt schließlich zu erzählen. „Deine Mutter hatte offensichtlich schon längst erkannt, dass wir uns besser als Hüter:innen der Erde begreifen, anstatt diese zu beherrschen und ausbeuten zu wollen. Ich kenne dieses behütende Selbstverständnis von meinen Kindern, die vor einigen Jahren eine Solawi, eine solidarische Landwirtschaft, gründeten. Sie entfalten ihre Solawi Genossenschaft durch drei Initiativen. Eine davon ist die relativ konventionelle, aber ökologische Anbauweise von Gemüse. Ein weiterer Bereich beobachtet und gestaltet ein ausgewähltes Stück Land um hier die Prinzipien der Permakultur zu erforschen. Eine dritte Gruppe kümmert sich um Bildungsangebote für regenerative ökologische, soziale, kulturelle und spirituelle Ansätze, deren Grundlagen ganzheitliches Denken und Handeln sind. So entstehen Synergien und neue Perspektiven für lebenswerte Zukünfte. Ich bin ziemlich begeistert von der Kraft dieser Gruppe, die ja von einer großen solidarischen Gemeinschaft getragen wird, welche vorab und verlässlich Ernteanteile bucht und bezahlt, so dass wirtschaftliche Sicherheit für die Gemüsegärtner:innen und für den Betrieb gewährleistet ist. Die Ernten fallen ganz unterschiedlich aus, je nachdem, was in der Saison eben gedeiht. Es wird geteilt, was da ist. Und es gehört noch mehr dazu. Man kann Genossenschaftsanteile erwerben und so auch seine persönlichen Fähigkeiten und Potenziale einbringen. Es gibt Ackertage, an denen die ganze Gemeinschaft eingeladen ist, freiwillig und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, auf dem Feld mitzuarbeiten. In der Solawi sind alle Generationen am Start, teilen Erfahrungen und materielle und ideelle Ressourcen, damit wir zukünftig gut versorgt sind. Vorbildlich.“
Zusammenhänge entdecken und fühlen
Die Jüngste von uns, Noemi, studiert Soziale Arbeit und hebt unsere Betrachtungen immer wieder mal auf Ebenen, die uns einen größeren Überblick eröffnen. Sie legt los. „Während ich Dir zuhöre, Felizitas, taucht in mir die Erinnerung an einen Text von Joanna Macy auf. Der Titel lautet „Das Ergrünen des Selbst“. Darin schreibt sie so beflügelnd zuversichtlich von der Geschichte unserer Verwandtschaft mit allem Leben. Für mich ist Joanna Macy ein echtes Vorbild. Sie ist Tiefenökologin, Philosophin und Aktivistin und bis heute, obwohl bereits über 90 Jahre alt, eine Stimme in der Welt, die uns zu systemischen Lebensweisen ermutigt, welche die wechselseitigen Abhängigkeiten von allem anerkennen. Statt auf besitzorientierte Dominanz, zielt sie deutlich auf gleichwürdige, respektvolle Strukturen und Umgangsformen, die von einem Egosystem – Bewusstsein überleiten in ein Ökosystem – Bewusstsein.“
Lernfelder für Beziehungen anlegen
Nun ergreift auch Anna das Wort, die bisher geschwiegen hatte. „Leben ist Beziehung. Das sollte uns klar sein, wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen. Es gibt zum Glück viele Wege, Beziehungsfähigkeit als Zukunftskompetenz zu ergründen und daran zu reifen. Ich liebe zum Beispiel Permakultur. Ein super Lernfeld für gelingende Beziehungen, denn hier findet viel mehr statt als nur Gartenbau. Wie wir ja wissen, sind viele Ökosysteme und auch soziale Strukturen so krank oder gar zerstört, dass ein bloßer Erhalt kaum noch ausreichend scheint. Es braucht Wiederaufbau, Heilung und Renaturierung, eben Regeneration. Permakultur ist in diesem Zusammenhang ein Konzept, welches auf Artenvielfalt, einem naturnahen Mischbewuchs und auf der Entwicklung von gesunden Böden basiert. Damit können wir der Erde und unserem Planeten etwas zurückgeben und gleichzeitig selbst gesunden. Wenn wir unsere Gärten und Landwirtschaften nach den Prinzipien der Permakultur anlegen, bilden sich essbare Ökosysteme, die sich aus sich selbst erneuern. Alles hat hier Sinn und Nutzen. Es ist altes Wissen der indigenen Völker, die von der Natur lernen und mit ihr arbeiten, nicht gegen sie.“
Leben gemeinsam feiern
Eine leichte Aufregung wird spürbar im Raum, so, als stünden wir kurz vor einem großen Abenteuer. Permakultur – da sollten wir unbedingt mal näher dran gehen und mehr in Erfahrung bringen. Petra kichert. „Jetzt fällt mir etwas ein. Das passt dazu. Habt Ihr schon mal von Schlüssellochgärten gehört? Ich habe doch bald Geburtstag und möchte mit meinen Freundinnen feiern. Dafür plane ich eine aufregend andere Party. Wir werden zusammen das erste Schlüssellochbeet in meinem Garten bauen! In Afrika gibt es das schon lange. Es sind runde Hochbeete mit einer Art Korb im Zentrum, der Gemüseabfälle aus der Küche aufnimmt, diese kompostiert und die Nährstoffe wieder in den Wachstumskreislauf abgibt. Die Beete sind so konstruiert, dass die Pflanzen Hitze gut aushalten und mit ganz wenig Wasser auskommen. Das ist doch wundervoll!“ Wir freuen uns. Für heute sind wir zufrieden mit unseren Erkundungen. Ein vertrautes Abschlussritual beendet den gemeinsamen Abend. Einatmen. Ausatmen. Unser Yoga tut gut. Wir verabschieden uns mit Vorfreude auf das nächste Mal. Jetzt ist es ein freudiges, entspanntes Seufzen von Sigrid: „Danke. Danke für diesen schönen Austausch. Auch wenn mein Körper älter wird und sich verändert, – mein Geist fühlt sich gerade ganz jung an…“
Auch zu lesen in der StadtZeit-Ausgabe 121, Herbst 2024
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