
Unser bakterieller Fingerabdruck
Seit einigen Jahren rückt das Darm-Mikrobiom näher in den Fokus auch der schulmedizinischen Forschung.
Es ist so einzigartig, wie jeder von uns und wir alle tragen es in uns: das Darm-Mikrobiom. Es hat viel mehr Einfluss auf unsere Gesundheit und damit auf unser Leben, als wir bislang dachten. Seit einigen Jahren rückt es näher in den Fokus auch der schulmedizinischen Forschung.
Das Darm-Mikrobiom. Foto: nobeastofierce – stock.adobe.com
StadtZeit-Gespäch mit Bettina Jakob, Pharmazeutisch-Technische Assistentin und Beraterin für Darmgesundheit (IHK)
Frau Jakob, seit einiger Zeit rückt das Darm-Mikrobiom immer stärker in den Fokus pharmazeutischer Studien und Forschungen. Wie erklärt sich das?
„Der Joghurt macht’s!“, ließe es sich etwas salopp formulieren. Natürlich nicht nur, aber die Werbung für bestimmte sogenannte probiotische Joghurt-Kreationen hat zeitgleich mit anderen Faktoren dafür gesorgt, dieses Thema in der Öffentlichkeit präsent werden zu las-sen.
Wann ging das los?
Breit in die Öffentlichkeit – und damit in die Wahrnehmung – gelang-te dieses Thema besonders durch große Werbekampagnen namhafter Joghurthersteller Mitte der 1990er-Jahre. Seinerzeit stagnierte der Joghurtmarkt, die Hersteller suchten nach neuen Märkten und Pro-dukten. Ihre Lösung war es, die gesundheitlichen Vorzüge bestimmter Joghurt-Kreationen besonders hervorzuheben. Die positiven Eigenschaften milchsauer vergorener Lebensmittel – nicht nur von Jo-ghurt – war schon lange bekannt.
Seit über 100 Jahren schon wenden Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen Arzneimittel an, die Bakterien enthalten, um Krankheiten zu heilen bzw. zu lindern. Daran sieht man, dass das Thema an sich nicht neu ist.
Hype ums Thema „Mikrobiom“
Lässt sich die Aussage, Joghurt mache unser Darm-Mikrobiom fit, halten?
„One joghurt a day, keeps the doctor away“, um es mit einer abgewandelten Version einer alten Volksweisheit zu sagen, reicht leider nicht. Die zur Joghurtherstellung verwendeten Bakterienstämme beziehungsweise die nach längerer Stehzeit im Kühlregal noch verbleibende Anzahl im Joghurt reichen nicht aus, um therapeutisch wirksam zu sein.
Sie sprachen noch von anderen Faktoren, die das Thema populär machten. Welche?
Auch Bücher wie „Darm mit Charme“ von Giulia Enders, das im Jahr 2014 auf der Spiegel-Bestsellerliste landete, trugen dazu bei, dass ein bis dato wenig beachtetes und mit Tabus belegtes Thema gesellschaftsfähig wurde.
Das, was wir gerade als Hype ums Thema Mikrobiom empfinden, liegt nicht zuletzt daran, dass sich bestimmte Krankheiten in der Gesellschaft sehr breit machen, für die es dringend neue Behandlungsansätze braucht. Nennenswerte Beispiele dafür sind Autoimmunerkrankungen wie Asthma, Diabetes, MS, aber auch Parkinson, chronische Darmerkrankungen, Depressionen und auch Alzheimer.
Für all die sucht man Behandlungswege, die sich auf jene Erkenntnisse stützen, die man aus der Mikrobiomforschung gewonnen hat.
Sie berichten von jungen und spannenden Forschungen und Studien, die es gibt. Wie ist die Erkenntnislage?
Über den Zusammenhang zwischen Darmbakterien und Gesundheit/Krankheit gibt es ständig neue Erkenntnisse. Obwohl das Grundwissen schon lange vorhanden ist, ist die Mikrobiomforschung noch recht jung, doch das Thema wird uns prognostisch noch lange beschäftigen. Die immense Anzahl von Suchmaschinen-Einträgen bei bestimmten Schlüsselworten rund und das Thema „Mikrobiom“ zeigt, wie groß das Interesse ist – möglicherweise auch, weil ein persönlicher Leidensdruck dahinter steht.
Großer Bedarf, großer Markt
„Darmsanierung ist ein Stichwort, das man aus der Heilpraktik seit Jahrzehnten kennt. Wie kommt es, dass nun auch die Schulmedizin das Thema entdeckt?
„Not macht erfinderisch!“, heißt es so schön. Die Schulmedizin braucht immer wissenschaftlich Belegbares. Sie misst, beweist und belegt, warum und auf welchem Weg eine Substanz wirkt. Denkt man an die vielen Nebenwirkungen von Arzneistoffen, ist das auch gut so. Die Erkenntnisse, dass viele der zuvor erwähnten Volkskrankheiten mit dem Darm assoziiert sind, häufen sich. Das Durchfall, Verstopfung oder Blähungen damit in Zusammenhang sehen, erschient soweit logisch. Aber auch Neurodermitis, ständig wiederkehrende Infekte, Reizdarm-Syndrom, Vaginalmykosen oder chronische Müdigkeit, um noch Weitere zu nennen, verknüpfen Forscherinnen und Forscher mit dem Darm beziehungsweise seiner Funktion. Ihnen geht es darum, erkrankten Menschen Linderung oder sogar Heilung zu verschaffen.
Wie kommt dieses komplexe System aus dem Gleichgewicht?
Das Darm-Mikrobiom kann durch verschiede Faktoren in ein Un-gleichgewicht geraten. Das können sein: Chronischer Stress, Medi-kamenteneinnahme oder Ernährungsfaktoren. Selbst die Art, wie wir geboren werden, spielt eine Rolle. Bei der Geburt werden entscheidende Grundsteine für das danach reifende Mikrobiom gelegt.
Steckt für die Pharmaindustrie da nicht auch ein riesiger Markt dahinter?
Zweifellos. Die Konzerne investieren mittlerweile viel in Forschung, um perspektivisch viel Geld damit zu verdienen. Nach Schätzungen von Ärzten, sollen zehn bis 15 Prozent der Menschen in Industrieländern vom Reizdarm-Syndrom betroffen sein; einer Erkrankung, die nicht klassisch definierbar ist. Die Diagnose „Reizdarm“ wird dann gestellt, wenn alle anderen Magen-Darm-Erkrankungen zuvor diagnostisch ausgeschlossen wurden. Daran sieht man einerseits, wie groß der Markt ist und andererseits der Bedarf. Denn die Betroffenen leiden teilweise stark unter Krämpfen, Durchfall, Schmerzen oder Verstopfung.
Unsere „Mitbewohner“ versorgen uns
Wann ist es aus Ihrer Perspektive sinnvoll, sich mit dem Darm-Mikrobiom zu beschäftigen?
Immer! „Und immer wenn er Pillen nahm“, um es mal in Anlehnung an eine beliebte Fernsehserie aus den 1960er- und 1970er-Jahren etwas salopp zu formulieren. Also, besonders dann, wenn irgendetwas im Körper nicht rund läuft.
Fangen wir beim „immer“ an. Was genau meinen Sie damit?
Immer, wenn wir etwas essen, sollten wir auch an den Darm denken. Die vielen Helfer, die unseren Darm besiedeln, wollen nämlich auch ernährt werden, damit sie als Zellen überlebens- und teilungsfähig bleiben.
Wer genau sind diese Helfer?
Futter für die Darmbakterien sind die sogenannten Ballaststoffe. Ballaststoffe sind Pflanzenteile, die der Körper selbst nicht abbauen kann. Ballaststoffreiche Lebensmittel sind Vollkorngetreide, Gemüse, Obst, aber auch Flohsamenschalen und Leinsamen. Früher ging man davon aus, dass diese vom Körper nicht abbaubaren Ballast-stoffe lediglich das Volumen im Darm erhöhen, was dann dazu führt, dass der Darm mittels seiner besonderen Transportbewegungen – medizinisch gesprochen: Darmpersistaltik – den Inhalt weiterbewegen kann. Mittlerweile ist bekannt, dass unsere „Mitbewohner“ im Darm diese Ballaststoffe verstoffwechseln und uns ihre Abbauprodukte zur Verfügung stellen. Diese Substanzen benötigt der Körper dringend, beispielsweise für die Energieversorgung der Schleimhautzellen, damit eine intakte Schleimschicht gebildet wird, die eine mechanische Abwehrbarriere gegen unerwünschte Eindringlinge darstellt.
Was kann jeder von uns tun, um diese von Ihnen beschriebenen Prozesse zu unterstützen?
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt 30 Gramm Ballaststoffe pro Tag zuzuführen.
Ballaststoffreiche Ernährung ist wichtig
Könnten Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
30 Gramm Ballaststoffe stecken in acht Scheiben Vollkornbrot. Oder aber in 40 Scheiben Toastbrot oder in 30 Croissants. Nehmen Sie täglich 30 Croissants oder 40 Scheiben Toast zu sich, gibt es möglicherweise Probleme an anderer Stelle, wie Sie sich vorstellen können. Damit möchte ich auch nicht sagen, dass acht Scheiben Vollkornbrot eine ausgewogene Ernährung darstellen.
Die Ernährung ist also ein zentraler Hebel?
Definitiv! Mit einer vollwertigen Kost, mit vielen Vollkornprodukten, Gemüse und Obst lässt sich eine ballaststoffreiche Ernährung gut erreichen. Diese ist dann gleichzeitig kalorienarm, aber reich an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen und weiteren schützenden Pflanzeninhaltsstoffen.
Es wird in diesem Zusammenhang auch viel von Nahrungsergän-zung gesprochen, die ja durchaus zweifelhaft sein kann…
Der Ballaststoffanteil in der Nahrung lässt sich relativ einfach erhöhen. Trinken oder essen Sie zusätzlich beispielsweise Flohsamen-schalen, Akazienfasern, Leinsamen oder Apfelpektin, dankt es Ihnen ihr Darm-Mikrobiom. Ins Müsli, in Saft oder in Apfelmus eingerührt ist das ganz einfach. Weil diese Stoffe ein Quellvermögen haben, ist es wichtig, viel zu trinken, was ja generell gut und wichtig ist.
Antibiotika sind wie ein Rasenmäher
Wie ist es mit Medikamenten, die viele regelmäßig zu sich nehmen? Beeinflussen sie das Mikrobiom?
Leider sind es viel mehr Wirkstoffe, die das Mikrobiom beeinflussen, als wir denken. An vorderster Stelle sind Antibiotika zu nennen. Von diesen gibt eine große Anzahl unterschiedlicher Substanzklassen, die gegen unterschiedliche bakterielle Erreger wirksam sind. Ein Antibiotikum ist ein Teufelszeug. Aber es ist gut, dass es das gibt. Antibiotika sind lebensrettend, dennoch sollte ihr Einsatz sorgfältig abgewogen werden. Denn das Antibiotikum zerstört die krankmachenden Bakterien, aber leider auch die vielen lebenswichtigen Bakterien in unserem Darm.
„Alles nicht so wild“, sagen die Hersteller und auch viele Ärztinnen und Ärzte sind dieser Überzeugung…
Einem Rasenmäher gleich dezimiert das Antibiotikum sowohl Anzahl als auch Artenvielfalt im Darm. Das sollte sich jeder klar machen, der solche Mittel einnimmt. Eine solche Dezimierung bewirkt eine Schwächung des Immunsystems, denn der Hauptwohnsitz unseres Immunsystems ist der Darm. Ist das Immunsystem einmal geschwächt, kann es sehr schnell gehen, Sie kommen in eine Abwärtsspirale und der nächste Keim nistet sich ein.
Welche Medikamente haben eine ähnlich zerstörerische Wirkung?
Beispielsweise Cortison, Medikamente zur Reduzierung der Magensäure, Abführmittel, bestimmte Schmerzmittel (wie Ibuprofen, Diclofenac), die Pille und Zytostatika. Allerdings sollte man keinesfalls verordnete Medikamente einfach absetzen. Schwermetalle wie Quecksilber oder Blei und Konservierungsmittel haben auch Einfluss auf die Darmflora und kann sie in ein Ungleichgewicht bringen. Auch chronischer Stress beeinflusst unsere WG im Darm.
Was kann jeder von uns tun, um sein Darm-Mikrobiom zu pflegen?
Im Falle einer Antibiotika-Einnahme empfehle ich dringend eine Darmsanierung, damit sich die beschriebene Artenvielfalt, die für ein gutes Immunsystem zuständig ist, wieder einstellt. Eine Darmsanierung bedeutet nichts anderes, als probiotische Bakterien (pro bios = für das Leben) einzunehmen, um den Körper bei seiner Wiederherstellungsarbeit zu unterstützen.
Viel getan ist zudem, wie oben beschrieben, mit einer guten, ballaststoffreichen Ernährung. Wichtig ist, auf krankmachende Zusatzstoffe zu verzichten, die sich oftmals in Fertigprodukten finden. Leider weiß man auch heute noch nicht ganz genau, welche Stoffe darunterfallen und was genau sie bewirken. Moleküle von Farbstoffen, Konservierungsstoffen und Emulgatoren können leider aus dem Darmvolumen durch die Darmschleimhautzellen, die eine Trennschicht darstellen, hindurch ins Körperinnere gelangen und dort beispielsweise Entzündungen verursachen – vor allem dann, wenn der Darm bereits vor-geschädigt ist. Bei einem „leaky gut“ (löchriger Darm) ist eine besondere Verbindungsstruktur zwischen benachbarten Darmschleimhautzellen nicht mehr intakt. Bildlich gesprochen driften die Zellen auseinander und lassen Moleküle durch, die dort gar nichts zu suchen haben. Zeitgleich ist bei dieser Problematik auch die schützende Schleimschicht nicht mehr intakt, so dass den unerwünschten Molekülen Tür und Tor geöffnet ist.
Das Gute daran ist, dass wir es selbst in der Hand haben. Jeder kann für sich selbst Sorge tragen, dass es dem Darm gut geht beziehungsweise wieder besser geht, um die eigene Lebensqualität zu verbessern und um langfristig gesund zu bleiben.
Quelle dieses Textes:
StadtZeit Kassel Magazin, Nr. 102, Februar/März 2021
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Der Interviewer
Klaus Schaake ist Miterfinder des StadtZeit Kassel Magazins. Er studierte Architektur und Städtebau. Über Umwege kam er zum Schreiben und begeistert sich seitdem für alles rund ums öffentlichkeitswirksame Kommunizieren.
Über das StadtZeit Kassel Magazin hinaus experimentiert er monatlich im StadtLabor des Freien Radios Kassel sowie mit zwei Podcastformaten, der Sprechzeit und der StadtteilZeit.