Verwenden statt verschwenden
Im Handel ist perfekt geformtes Gemüse gefragt. Das geht auf Kosten der Nachhaltigkeit.
Weltweit landen Jahr für Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Müll. Dazu trägt unter anderem der gedankenlose Umgang mit Nahrungsmitteln bei. Und auch durch die Anforderungen des Handels zum Beispiel an Gemüse gehen Lebensmittel unnötig verloren.
Der Joghurt abgelaufen, das Brot trocken, der Apfel mit einigen braunen Stellen, die Nudeln von gestern heute uninteressant – nun heißt es in der Regel: Ab damit in die Tonne. Pro Kopf landen in deutschen Haushalten jedes Jahr etwa 75 Kilogramm Lebensmittel im Müll. Das geht aus einer Studie des Johann Heinrich von Thünen-Institut im Auftrag des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zusammen mit der Universität Stuttgart hervor. Insgesamt sind es etwa zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel, die allein in Deutschland jährlich entlang der Lebensmittelversorgungskette als Abfall entsorgt werden. Mehr als die Hälfte davon stammt aus privaten Haushalten. Dazu zählen neben Speiseresten auch Nuss- und Obstschalen sowie Knochen. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden Jahr für Jahr weltweit rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel ungenutzt entsorgt. Das entspricht laut WHO einem Drittel der Produktion.
Tipps der Initiative “Zu gut für die Tonne”
Lebensmittelverschwendung fängt oft schon beim Einkauf an. Wer wertschätzend und verantwortungsvoll mit Essen umgehen möchte und möglichst nichts wegwerfen will, sollte einen guten Plan haben. Das bedeutet: einen Einkaufszettel machen, bevor es auf den Markt oder Supermarkt geht, und dafür checken, was noch im Vorrats-, Kühl- und Gefrierschrank vorhanden ist und wie lange Joghurts und Co. noch haltbar sind. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Verfalldatum, wie es bei Medikamenten angegeben ist. Daher sind Lebensmittel in der Regel deutlich länger essbar, als das Mindesthaltbarkeitsdatum angibt.
Mit seiner „Nationalen Strategie gegen Lebensmittelverschwendung“ setzt sich das BMEL gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln ein. Dazu gibt es die Informationsinitiative „Zu gut für die Tonne!“, die auf ihrer Internetseite viele Tipps rund um das Thema verwenden statt verschwenden von Lebensmitteln gibt. Ein ganz wichtiger Aspekt dabei ist auch das Lagern. Die Website bietet zum Beispiel einen Überblick darüber, wie und wo – also auch in welchem Fach des Kühlschranks – welches Lebensmittel am besten aufgehoben ist. Stichwort Backwaren: Frisches Brot sollte luftig aufbewahrt werden – besser in der Papiertüte der Bäckerei als in Plastik. Feuchte Umgebung ohne Luftzirkulation erhöht die Gefahr, dass sich Schimmel bildet. Ungeschnittenes Brot hält sich länger als geschnittenes.
Sinnvoll ist es auch, einen Wochenplan darüber zu machen, welche Speisen es wann geben soll. Denn so lassen sich Speisereste in der nächsten Mahlzeit verwerten. Dafür gibt es auf der „Zu gut für die Tonne!“-Seite den Menüpunkt Reste-Rezepte, der in einer Rezeptdatenbank Vorschläge dafür bietet, aus übriggebliebenen Lebensmitteln ein neues Gericht zu zaubern.
Verluste auf dem Weg in die privaten Haushalte
Der Verlust von Lebensmitteln beginnt allerdings schon viele Etappen eher, lange bevor sie in privaten Haushalten ankommen. Die Hessische Staatsdomäne Frankenhausen beschreibt einige Faktoren dieses Prozesses – und liefert zum Beispiel Lösungen dafür, Gemüse zu bewahren. Der Lehr- und Versuchsbetrieb der Universität Kassel erzeugt seit 1998 auf mehr als 200 Hektar Fläche qualitativ hochwertige, ökologische Nahrungsmittel. Neben Milch, Eiern und Getreide spielen dabei Kartoffeln und Feldgemüse wie Möhren, Rote Bete und Zwiebeln eine herausragende Rolle.
Bereits bei der Ernte im Herbst bleiben aufgrund der eingesetzten Technik Möhren und Kartoffeln auf dem Feld liegen. Der Grund: Wenn sie zu klein sind, fallen sie durch die Siebbänder der Erntemaschinen hindurch. Die Lösung: „Um einen Teil dieser unvermeidlichen Verluste zu minimieren, können im Hofladen der Domäne ‚Lesescheine‘ erworben werden, sodass Verbraucher*innen gegen kleines Geld auf dem Acker verbliebenes Gemüse einsammeln können“, erklärt Susanne Weihermann von der Staatsdomäne.
Zu klein, zu krumm, zu fleckig für den Handel
Der größte Verlust entstehe, sobald die Produkte den Hof auf dem Weg in den Handel verlassen. Durch strikte Vorgaben des Handels gelangen viele Rohstoffe erst gar nicht in die Regale. „Aufgrund gesetzlicher Normen, die sich rein auf das Aussehen der Lebensmittel wie ‚richtige‘ Größe, Farbe und Form beziehen, kann ein großer Anteil nicht als Speiseware vermarktet werden“, sagt die Diplom-Agraringenieurin. Dabei gehe es um Größe, krummen Wuchs oder oberflächliche Verfärbungen. Da sämtliche Produkte eine Waschstraße und eine Laserkontrolle passieren müssen, bevor sie verpackt werden, erfolgt hier die stärkste Selektion. Von den in Frankenhausen angebauten Kartoffeln werde ein Viertel, bei Möhren sogar ein Drittel als „Mangelware“ aussortiert, obwohl „nur ein Bruchteil echte Qualitätsmängel wie Mäusefraß, erhöhter Drahtwurmbefall oder Erreger, die zu Fäulnis führen können, aufweisen“. Im Lebensmitteleinzelhandel werden den Erzeuger*innen laut Susanne Weihermann 30 Prozent der Ware als unverkäuflich abgezogen, im Naturkostfachhandel dagegen 10 Prozent. Der Grund: „In Hofläden, auf Wochenmärkten oder in Naturkostläden ist die Vielfalt von Lebensmitteln als Naturprodukte meist noch sichtbar. Im Supermarkt wird aber seit Jahrzehnten ausschließlich makelloses, gleichförmiges, perfekt aussehendes und oft auch gewaschenes Obst und Gemüse angeboten. Und davon alles, zu jeder Zeit.“
Auch die normierten Plastikverpackungen im Handel sorgen für unnötigen Ausschuss. Oft seien die Gebinde zu groß, sodass Verbraucher*innen Ware kaufen müssen, die sie nicht benötigen. Und wenn eine perfekt gewachsene Möhre einfach zu lang ist für die Verpackung, werde sie entsorgt.
Zusätzliche Transportkilometer sind schlecht für die Klimabilanz
Der Ausschuss hat weitere Folgen: „Die aussortierten Kartoffeln müssen wir vom Abpackbetrieb zurückkaufen, damit sie wenigstens noch an unsere Kühe und Schweine verfüttert werden können, denn sonst landen sie in der Biogasanlage“, erklärt Susanne Weihermann. Das erfordert zusätzliche Transportkilometer per Lastwagen – was sich negativ in der Klimabilanz niederschlägt. „Für diese Ver(sch)wendung von ursprünglich zur menschlichen Ernährung erzeugten Produkte ist der Ressourceneinsatz weder ökologisch noch ökonomisch nachhaltig.“ Die Hessische Staatsdomäne Frankenhausen zeigt bei Hofführungen, wie ökologische Nahrungsmittel produziert werden und was in der Region wann wächst. Hier erfährt man, wie individuell und einzigartig Gemüse aussehen kann und wie viel wichtiger guter Geschmack statt gutes Aussehen ist. „Kinder können im Rahmen von Bioleka (Biologische Lernorte Landkreis Kassel)-Angeboten wieder lernen, dass Gurken krumm, Kartoffeln herzförmig, Möhren Beine haben, Äpfel fleckig und Rote Bete sehr unterschiedlich groß sein können – und lecker. Und dass nichts davon in die Tonne gehört.“
Weitere Informationen gibt es unter: www.zugutfuerdietonne.de
31.03.2022
Autor: Lars Hofmann
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 108, Februar/März 2022
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