Von Joseph Beuys lernen
Eine Kolumne von Doris Gutermuth
Fußgängerüberwege in Kassel – „Soziale Plastik Zebrastreifen“.
Als der Visionär Joseph Beuys zur documenta 7 seine 7000 Basaltstelen kunstvoll auf dem Friedrichsplatz ablegte und der Stadt Kassel die „Soziale Plastik 7000 Eichen“ schenkte, reagierten die Beschenkten höchst unterschiedlich: Nachdenkliche Ergriffenheit und begeisterte Bewunderung standen lautstarkem Protest und größtem Unverständnis gegenüber. Das kollektive Unbewusste der Kasseler Bevölkerung war angesichts der aufeinander geschichteten Gesteinsbrocken am kriegstraumatisierten Nerv seiner leidlich verdrängten Stadtgeschichte getroffen. Niemand stellte öffentlich den Bezug zur Bombardierung der Stadt im zweiten Weltkrieg her, doch die nicht enden wollende Erregung ließ tief blicken. Die Lage wurde nicht besser, als die empörten Bürger:innen vom Beuys’schen Konzept „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ erfuhren. Der Gesteinshaufen sollte also nach und nach wieder vom Friedrichsplatz verschwinden. So weit, so gut. Aber dafür würden die Brocken als dauerhaft sichtbare Begleiter von sage und schreibe 7000 neu gepflanzten Eichen oder anderen Laubbäumen in ganz Kassel aufgestellt – geht’s noch?!
Ein visionäres Zeichen
Der Kasseler Zeitgeist im documenta-Jahr 1982 sah im Stadtbaum vordringlich ein störendes Element, das vor allem sehr viel unnötige Arbeit verursachte, den Straßenverkehr einschränkte und Parkplätze wegnahm. Volkes Zorn entfachte sich am unfallverursachenden Baum mit Stele, Racheakte durch Absägen oder Umknicken von jungen Beuys-Bäumchen folgten. Joseph Beuys und seine Mitstreiter aber hielten mit Entschlossenheit und Tatkraft dagegen. Die „Soziale Plastik 7000 Eichen“ begrünte neben städtischen auch private Areale und nahm über die Jahre beeindruckend Gestalt an. Hitziger Protest flammte bisweilen auf, wenn BeuysBäume die Aussicht störten. Der Begriff Willkommenskultur und sein tieferer Sinngehalt hatten noch nicht die Runde gemacht. Joseph Beuys, so viel weiß man heute, setzte 1982 ein visionäres Zeichen für gelingende Integration. Dauerhafte Hege und beständige Pflege fließen tagtäglich in die weltweit größte Außenskulptur ein. Mit stolzgeschwellter Brust und wachsendem Wissen über klimaregulierende Bäume ebbte die Empörung spürbar ab, was nicht heißt, dass die Wogen der Entrüstung beim Integrationsversuch „Kiefernwald auf dem Grimmplatz“ nicht wieder hochschlagen.
Ein neues Sehen
Große Kunst ist ein beständiger Quell aufwühlender Inspiration und ideenreicher Interpretation. Die „Soziale Plastik“ schult das Denken, versetzt in Staunen, reizt die Gemüter und erzeugt Impulse für ein neues Sehen. Wir sollten auch die rund 100 Fußgängerüberwege im Kasseler Stadtgebiet als „Soziale Plastik“ ansehen! Jeder Zebrastreifen auf dem Asphalt wird – ganz im Beuys’schen Sinne – von einem Verkehrsschild am Mast begleitet. Auch da gehört etwas untrennbar zusammen, das nur gemeinsam Wirkung entfaltet. Diese Installation der weißen Blockstreifen mit aufgestelltem Schild steht einem urbanen Kunstwerk in nichts nach. Ihre Vielzahl – über das ganze Stadtgebiet verteilt – lässt vor dem inneren Auge eine „Soziale Plastik“ entstehen, die der Verkehrssicherheit im Fußverkehr dient, vor allem aber Besonderes leistet: sie bewirkt eine klimafreundliche Entschleunigung, steigert die Lebensqualität, fördert den sozialen Zusammenhalt und stößt Innovationen an, die dem Gemeinwohl dienlich sind. Joseph Beuys wollte zur documenta 7 nicht mit 7, nicht mit 70 und auch nicht mit 700 Eichen kleckern; er entschied sich fürs richtungsweisende Klotzen! Heute wissen wir: Es war ein ganz großer Wurf und starker Auftakt. Ohne Zweifel – wir brauchen mehr Bäume und auch mehr Fußgängerüberwege in unserer Stadt! Der Gesetzgeber muss die längst nicht mehr zeitgemäßen Richtlinien den gegenwärtigen Erfordernissen anpassen. Der große Künstler hat uns gezeigt: Eine „Soziale Plastik“ bringt kreative Bewegung in erstarrte Systeme. Danke, Joseph Beuys, danke!
Autorin:
Doris Gutermuth, Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin, studierte Kunst bei Karl Oskar Blase, arbeitet als Psychotherapeutin und Künstlerin in Kassel.
Auch in der Ausgabe 118, Winter 2023/24
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