
Was unsere Städte über die Vergangenheit erzählen
Städtebau im Nationalsozialismus
Ob Mahnmal am Lernort LEO am Campus Holländischer Platz, das Gelände der ehemaligen Henschel-Werke in Rothenditmold oder das Gebäude des Bundessozialgerichts nahe des Bahnhofs Wilhelmshöhe: Bis heute weisen unsere Städte die Spuren nationalsozialistischer Stadtplanung und Städtebaus auf und fordern eine Reflexion von Erinnerungskultur vor Ort in Kassel, aber auch in Deutschland und Europa. Anlässlich des 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs lud der Fachbereich 06 Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung der Universität Kassel zur öffentlichen Buchvorstellung mit begleitendem Fachvortrag zum Städtebau im Nationalsozialismus ein.
Angesichts aktueller Debatten über einen „Schlussstrich“ unter die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands stellt sich erneut die Frage, wie Architekten und Planer an der Schaffung und Umgestaltung von Räumen für eine großflächige Gleichschaltung, Unterdrückung und Vernichtung mitgewirkt haben. Im Fokus steht dabei der große städtebauliche Zusammenhang. „Städtebau war ein zentrales Werkzeug der NS-Diktatur. Das heißt, es geht nicht um einzelne Architekturen, sondern darum, wie sich diese in das nationalsozialistische Städtebaukonzept einfügten und welche Konsequenzen diese Planungsprozesse für das gesellschaftliche Zusammenleben und das Verständnis der NS-Zeit hatten und haben,“ betont Professor Uwe Altrock vom Fachgebiet Stadterneuerung und Planungstheorie am Institut für Urbane Entwicklungen. So bedingte ein neuer Luftwaffenstützpunkt beispielsweise auch den Bau einer Schule, einer Akademie und von Wohnhäusern, die sich zu einem bestimmten intendierten Stadtbild und soziokulturellen Umfeld zusammenfügten. Gleichzeitig produzierten Architekturzeitschriften wie die „Baulust“ ein propagiertes Bild vom Städtebau in der NS-Zeit. Besondere Bedeutung kam dabei den Baubehörden zu, die den Städtebau als Herrschaftsinstrument maßgeblich vorantrieben.
Stadtplanung im Schatten der NS-Zeit
Im nationalsozialistischen Deutschland waren das beispielsweise der bekannte Architekt und Bauinspektor Albert Speer, aber auch der ab 1941 als Kasseler Baurat tätige Erich Heinicke. In seiner Amtszeit riss die Behörde große Teile der Kasseler Altstadt ab, die mit ihren engen Gassen nicht den
damals modernen Luftschutzansprüchen genügte. Ein anderes Beispiel ist die Aschrottstraße im heutigen Kasseler Stadtteil Vorderer Westen. Diese wurde teils zugunsten nationalsozialistischer Stadtplanung zerstört, teils – aufgrund des jüdischen Namensgebers Siegmund Aschrott – zeitweise umbenannt. Aber auch nach 1946 beeinflusste Heinicke den Wiederaufbau maßgeblich, in dem er Vorschläge zum Erhalt von Gebäuden blockierte und stattdessen überbreiten autogerechten Straßen wie der Kurt-Schumacher-Straße den Vorrang gab. Damit ist Kassel ein besonderes Beispiel für die Kontinuität der stadtplanerischen Praxis der NS-Zeit über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus.

Das Gebäude des heutigen Bundessozialgerichts mit dem veränderten Verlauf der Aschrottstraße, Luftbild 1938. Foto: Stadtmuseum Kassel
Städtebau als Mittel der Herrschaft
Auch andere europäische Diktaturen wie Spanien, Italien oder Portugal nutzten Städtebau als Herrschaftsinstrument. Dies zeigte sich zum Beispiel im Bau großflächiger Freizeit- und Erholungsanlagen wie dem Stadion Santiago Bernabéu in Madrid. Heute für den Fußballverein Real Madrid berühmt, dienten solche Orte der Massenmobilisierung und Propaganda sowie als Manifestationen von Herrschaft im Wettstreit um die europäische Vormachtstellung. Zum anderen waren städtebauliche Projekte im Zuge der territorialen Ausdehnung nach Osten mit neuen Siedlungsplänen für die besetzten Gebiete verbunden. Bis 1941 lagen bereits mehrere Dutzend Pläne
zur Kolonisierung polnischer Städte – darunter Warschau und Krakau – vor. Um die umfangreichen Umbauten durchzusetzen, vertrieb das nationalsozialistische Regime die Einwohnerinnen und Einwohner dieser Gebiete massenhaft, isolierte sie in Ghettos, ermordete sie oder setzte sie als
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in NS-deutschen Industrien und Lagern ein. Städtebau diente damit der ideologischen Selbstinszenierung nach innen. Er war ein zentrales Mittel zur räumlichen und sozialen Neuordnung im Sinne totalitärer Herrschaftsansprüche.
Die Auseinandersetzung mit dem Städtebau im Nationalsozialismus zeigt, wie tiefgreifend politische Ideologien in das Alltagsleben und die gebaute Umwelt eingreifen können – und wie deren Spuren über Ländergrenzen hinweg bis heute sichtbar bleiben. Städte sind gleichzeitig Orte des Wohnens und Arbeitens sowie Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse und historischer Brüche. Eine kritische Reflexion dieser Vergangenheit trägt zur historischen Aufarbeitung bei und eröffnet neue Perspektiven auf die gesellschaftliche Verantwortung, die mit städtebaulichen Akteuren und Entscheidungen in Gegenwart und Zukunft verbunden ist.
30.06.2025
Die Autorin Maike Raatz
arbeitet seit 2024 als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Fachbereich Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung der Universität Kassel.