Kunst beschützt Leben!
Räume voller Kunstwerke, Märchenbilder und Zebrastreifen-Schilder aus aller Welt: Das Atelier von Doris Gutermuth lädt zur Entdeckungsreise ein.
Der sanfte Klang der berühmten Westminster-Turmglocken begleitet zuverlässig Doris Gutermuths künstlerisches Schaffen. Jede Viertelstunde erklingt die erhabene Standuhr, ein Erbe ihrer Tante, und erinnert sie an die Zeit, als eben diese Tante und ihre Eltern der jungen Doris Märchen der Brüder Grimm vorlasen. Das altehrwürdige, vom jahrzehntelangen Gebrauch mittlerweile deutlich gezeichnete Märchenbuch ihres Vaters liegt noch immer in dieser Uhr. Der Same, den Tante und Eltern beim Vorlesen der Grimm’schen Märchen in das Kind einpflanzten, ist über Umwege zu einem stattlichen Baum herangewachsen – zu Doris Gutermuths Lebenswerk.
Nie hatte die praktizierende Psychoanalytikerin geplant, bildende Künstlerin zu wer- den. Doch als Kassel sich 2004 mit dem Slogan „Kassel gewinnt“ aufmachte Kulturhauptstadt Europas 2010 zu werden, kam es zu einer Wendung. Thomas Erik Junge, der damalige Bürgermeister und Kulturdezernent, rief die Bürgerinnen und Bürger Kassels auf, sich aktiv zu beteiligen. Jede Idee zählte.
„Sein Aufruf war so ergreifend, ich konnte nicht anders, als mitzumachen“, sagt die Künstlerin im Erker ihres Ateliers sitzend.
Zebrastreifen künstlerisch gestalten
Frei und assoziativ ließ Doris Gutermuth ihre Gedanken schweifen. Wenige Wochen zuvor hatte sich bei ihrer Begegnung mit der Kasseler Galeristin Ulrike Petschelt und deren Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus Frankreich die eigentliche Initialzündung ereignet. Das Kunstwerk „Wolf, Ziege, Kohlkopf“ des französischen Künstlers Jean-Pierre Pincemin markiert den Wendepunkt im Leben von Gutermuth.
Die Geschichte von der klugen Lösung des Fährmanns, wie er seine Schutzbefohlenen sicher über den Fluss brachte, betont die Schutzfunktion des Zebrastreifens. Im Kunstwerk selbst wird die Zebrastreifung stilisiert.
Auf Grundlage dieses Bildes entstand in Zusammenarbeit mit Ulrike Petschelt das Projekt „Kunst beschützt Leben“. Gemeinsam mit der Galeristin lud Gutermuth Jean-Pierre Pincemin ein, die künstlerische Gestaltung eines Zebrastreifens zu übernehmen. Das Projekt wurde in die Bewerbungsmappe der Stadt Kassel zur Kulturhauptstadt 2010 aufgenommen.
Eine neue „Leinwand“
Auch wenn die Stadt Essen zusammen mit dem Ruhrgebiet seinerzeit zur Kulturhauptstadt ernannt wurde und „Kunst beschützt Leben“ nicht mehr realisierbar war, behielt Doris Gutermuth die Zebrastreifen im Blickfeld und ließ sich nicht entmutigen, denn ihr Nachname ist eben Programm.
Auf der Suche nach einer neuen „inspirierenden Leinwand“ war wieder ein Kunstwerk im Spiel, diesmal Dieter Schwerdtles Foto aus dem Jahre 2004, das den Gestaltungsprozess von Jean-Pierre Pincemins „Wolf, Ziege, Kohlkopf“ am Fußgängerüberweg vor der Kurfürstengalerie dokumentiert. Es zeigt Pincemin am Befestigungsmast des Zebrastreifen-Schildes lehnend. Künstler und Schild sind beide nur von hinten zu sehen. Diese Szene war der Auslöser für die zündende Idee.
„Gedanklich drehte ich das Schild zu mir um und mir wurde in diesem Moment die Besonderheit des Verkehrszeichens bewusst: Das Fußgängerpiktogramm ist international bekannt, ja weltberühmt. Wer in Kassel ist gleichfalls so berühmt, dass er es mit diesem Piktogramm aufnehmen kann? Die Brüder Grimm kamen mir in den Sinn und bald tauchten ihre Märchenfiguren als mobile Gesellschaft vor meinem inneren Auge auf. Das Fußgängerpiktogramm machte Platz für Rotkäppchen & Co.. So fand ich meine Leinwand – mein Markenzeichen: das Zebrastreifen-Design©.“
Die gewonnenen Erfahrungen während der Kulturhauptstadt-Bewerbung bestärkten Doris Gutermuth, sich als Künstlerin weiterzuentwickeln. Im Alter von 50 Jahren wurde sie Schülerin bei Karl Oskar Blase, damals schon emeritierter Professor für Kunst und visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel, und absolvierte bei ihm ein vierjähriges Privat-Studium. In den Jahren danach wurde er ihr zum väterlichen Freund, der sie stets ermutigte, ihren künstlerischen Weg weiter zu gehen.
Die Schildersammlung
„Marathon-Mann“ Winfried Aufenanger, der im Herbst 2021 verstorbene Initiator des Kassel-Marathon, suchte zur Premiere 2007 nach einem begleitenden, international ausgerichteten Kunstprojekt, das die Philosophie vom Zusammenleben in Frieden und Freundschaft aufgreifen sollte. Doris Gutermuth hatte die Idee, die weltweit bekannten Zebrastreifen-Schilder als Mittel der Völkerverständigung zu nutzen. Am 10. Juni 2007 wurden Marathonläufer zu Überbringern einer international verbindenden Kultur- und Friedensbotschaft. Diese sogenannten „Marathon-Schilder“ aus den Ländern Österreich, Tschechien, Zypern, Sibirien und der Türkei sind die ersten Exponate der internationalen Sammlung originaler Verkehrszeichen für Fußgängerüberwege.
Die Künstlerin führt diese Sammlung in variierenden Kontexten fort, der Gedanke der Völkerverständigung ist immer dabei. Ein vom Wüstensand gezeichnetes Schild aus Burkina Faso sticht in ihrer aus 38 Exponaten bestehenden Sammlung besonders hervor.
Ein Lebenswerk
Während des Studiums bei Karl Oskar Blase setzte sich Doris Gutermuth zum Ziel, alle 211 Märchentexte aus der Sammlung der Brüder Grimm als erzählende Bildertafeln auf Zebrastreifen-Design© zu illustrieren. Mit Blick auf das bevorstehende Jubiläum „200 Jahre Märchen der Brüder Grimm“ am 20.12.2012 erarbeitete sie für alle Grimm’schen Märchen detailreiche Gestaltungspläne. Nach dieser Vorlage illustriert sie nun nach und nach jedes Märchen.
„Mein Ziel war und ist, eine zeitgemäße Märchenerzählung in Bildern – frei von Sprachbarrieren – zu erschaffen, die mit dem weltumspannenden Mega-Thema Mobilität einhergeht. Heute weiß ich, wie sehr sich der Zebrastreifen auch als Sympathieträger für die klimafreundliche Verkehrswende eignet.“
Manche Bildertafeln bestehen aus 49 Einzelbildern. Die Hautfarbe der Märchen-Figuren ist wie beim Fußgänger-Piktogramm immer Schwarz. Jede Figur, jedes Detail, wird sorgsam gestaltet und von Hand mit Bleistift gezeichnet. Bei der Bildkomposition bezieht die Künstlerin die im Märchen geschilderte Umgebung mit ein. Die fertigen Handzeichnun- gen werden digitalisiert und computergrafisch koloriert. Seit 2010 bringt sie die Sonne als neues Symbol ein. In dem Projekt „Jedem Märchen seine Sonne“ greift Gutermuth die immer wichtiger werdende Rolle der Sonnenenergie auf.
Ihre Illustrationen hängen weltweit u.a. in Schulen, Kindergärten, Rathäusern und deutschen Generalkonsulaten. Immer wenn ein neues Zebrastreifen-Schild seinen Weg nach Kassel findet und in die Sammlung aufgenommen wird, schickt die Künstlerin dem Zuträger als Dankeschön für sein Engagement eine ihrer Bildertafeln. Die Idee vom kulturellen Brückenschlag findet so eine beständige Fortsetzung.
In ihrem Atelier im Königstor erschafft Doris Gutermuth Werke, die das reiche kulturelle Erbe der Stadt Kassel mittels moderner Interpretation in die heutige Zeit übertragen. Ihre Kunst ermutigt Menschen, sich als Mitgestalter der Gesellschaft zu definieren – ganz im Sinne von Joseph Beuys und frei nach dem Lehrsatz von Karl Oskar Blase:
„Die Idee ist das Werk. Das Werk lebt die Idee.“
04.05.2022
Text und Fotos:
Christine Brinkmann
„Menschen im Portrait“ auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 109, April/Mai 2022
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