Systemrelevant?! – Kunstschaffende, Kulturförderung und Demokratie
Provozierende Fragen bei einem Symposium in der Forschungsstation am Kasseler Lutherplatz.
Kunst und Kultur sind „das Lebenselixier der Demokratie“ – das behauptet jedenfalls die derzeitige Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Doch was genau soll das heißen? Worin besteht eigentlich der Beitrag der Bildenden Kunst zur Gesellschaft? Und wenn die Kunst wirklich so wichtig sein sollte: Wird sie von Gesellschaft und Politik auch entsprechend gewürdigt?
Diese Leitfragen ließen aufhorchen und führten Interessierte aus den Bereichen der Bildenden Kunst, der Kulturpolitik und Sozialwissenschaften sowie der Stadtgesellschaft zusammen zu einem Symposium, das vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel, dem documenta Institut und der Friedrich-Ebert-Stiftung Hessen am 9. Juli unter dem Titel „Systemrelevant!?“ organisiert worden war. Die Diskussion fand statt in der Forschungsstation am Lutherplatz, einer hellen Holzkonstruktion nach dem Bauhaus-Modell des „wachsenden Hauses“.
Nach der Begrüßung durch den Vizepräsidenten der Universität Prof. Dr. Michael Wachendorf und die Organisatorinnen Prof. Dr. Mi You und Prof. Dr. Sabine Ruß-Sattar wurde von Moderator Nick Prasse das Programm dargestellt. Die erste Diskussionsrunde befasste sich unter dem Titel „Kreativ! Prekär! – Systemrelevant!?“ mit der sozialen Lage der Kunstschaffenden und der Öffentlichen Politik im Kulturbereich.
Einkommen nicht existenzsichernd
Dr. Eckhard Priller, Soziologe und Ökonom vom Maecenata-Institut, stellte die Ergebnisse einer aktuellen Auftragsstudie des Bundesverbands Bildender Künstler (BBK) vor und machte damit deutlich, wie prekär die aktuelle wirtschaftliche Situation, vor allem seit Ausbruch der Corona-Pandemie, für die Kunstschaffenden hierzulande ist. Demnach belaufen sich die Einkünfte aus künstlerischen Tätigkeiten bei den allermeisten Kunstschaffenden im Bereich von 0 bis 5000 Euro im Jahr. Da dieses Einkommen nicht existenzsichernd ist, seien die allermeisten Künstler/-innen auf zusätzliche Einkommensquellen angewiesen, sei es in Form von Lehrtätigkeiten oder anderweitigen Nebenjobs. Zudem hätten Kunstschaffende in der Regel nicht zu unterschätzende Nebenkosten zu tragen, beispielsweise für die Materialbeschaffung, für die Anmietung geeigneter Ateliers und vieles mehr. Michael Göbel, bildender Künstler und Vorstandsmitglied des Kasseler Kunstvereins, kennt die genannten Probleme aus eigener Erfahrung. Er betonte, dass Kunstschaffende trotz aller finanziellen Schwierigkeiten „naturgemäß“ stets kreative Lösungen fänden, um schwierige Phasen zu meistern. Außerdem hätte geholfen, dass der Umgang miteinander nicht von Konkurrenz, sondern Solidarität geprägt sei. Er würdigte das kulturpolitische Engagement der Stadt Kassel in Person der anwesenden Kulturdezernentin Dr. Susanne Völker: Anders als in anderen Städten sei in Kassel das Ausstellungshonorar für Künstler:innen durchgesetzt worden.
Kritik an den Coronahilfen des Bundes
Dagmar Schmidt, bildende Künstlerin und BBK-Bundesvorsitzende, wies darauf hin, dass die gemeinschaftliche Organisation der Kunstschaffenden in Form des BBK sehr wichtig sei, um politische Ziele und damit die Gesamtsituation der Kunstschaffenden grundlegend zu verbessern. Zugleich kritisierte sie, dass während der Pandemie die vom Bund organisierten Corona-Hilfen für Selbständige nicht auch den Kunstschaffenden zugutegekommen seien.
Qualität statt Quantität
Dr. Tobias Knoblich, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und Kulturdirektor der Stadt Erfurt, merkte an, dass „Kunst ein kaputtes System ist“ und es den Kunstschaffenden finanziell noch nie wirklich gut gegangen sei. Er plädierte für ein Umdenken im institutionellen Kunstsegment und machte sich stark für gewisse Qualitätsansprüche in Bezug auf die Bewertung von Kunstobjekten. Damit möchte er die stetige Zunahme an öffentlich geförderten Kunsteinrichtungen eindämmen, gemäß dem Motto „Qualität statt Quantität“. Dabei sprach er das Beispiel städtischer Museen an. Ziel müsse es sein, durch die Reduzierung der Mittelvergabe an große Kulturinstitutionen mehr Mittel für einzelne Künstler:innen zu haben und ihnen so höhere Ausstellungsvergütungen zahlen zu können. Dagmar Schmidt stimmte diesem Sachverhalt grundsätzlich zu; sie war jedoch der Ansicht, dass Kunst Vielfalt bedeute und daher Lösungsvorschläge in Erwägung gezogen werden sollten, die eine faire Vergütung für alle Kunstschaffenden nach sich ziehen. Dr. Susanne Völker, Kulturdezernentin der Stadt Kassel, sprach sich ebenfalls für die Kunstvielfalt in institutionellen Einrichtungen aus, räumte jedoch ein, dass Wachstum aufgrund von knappen Ressourcen grundsätzlich begrenzt sei. Michael Göbel wies in diesem Kontext darauf hin, dass „Kunst nur wertvoll ist, wenn sie auch gesehen wird“. Allgemeingültige Qualitätskriterien zu definieren sei schwierig, wichtig sei das Kriterium der Relevanz.
Kunst als Chance?
Im weiteren Verlauf der Diskussionsrunde ging Dr. Priller auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Künstler ein. In diesem Kontext wies er beispielsweise auf die stetig abnehmende gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen hin, die sich u.a. durch die hohen Mitgliederverluste zeigt. Für die entstehenden Lücken in der Wertevermittlung sieht er eine große Chance für die Bildende Kunst. Und äußerte seine Ansicht: „Die Gesellschaft braucht Kunst und Kunst braucht die Gesellschaft“.
Kritisch beurteilte Idee
Aus dem Publikum kam die Frage auf, wie man genau die Qualität von Kunst beurteilen könne. In der Gegenwart sei der Kunstbegriff so erweitert, dass auch der Kreis der Kunstschaffenden nicht mehr abgrenzbar sei: Heutzutage sei quasi jeder Künstler oder Künstlerin mit seinem Handy, befördert durch die sozialen Plattformen wie Instagram und Co. Daraufhin erläuterte Dr. Knoblich, wie Kunstobjekte durch Expertenbeiräte gemäß bestimmter festzulegender Qualitätsmaßstäbe zu beurteilen seien. Diese Idee wurde von den übrigen Diskussionsteilnehmern kritisch beurteilt. Künstler Göbel sieht in der subjektiven Einschätzung durch einen Expertenbeirat eine große Gefahr der Diskriminierung von Künstler/-innen, die nicht in die aktuell gewünschten Schablonen passen. Künstlerkollegin Schmidt erkannte darüber hinaus die Gefahr, dass Kunst lediglich auf dem Ideal der heutigen Zeit beurteilt werde, was den Kern der Kunstvielfalt verletze. Kulturdezernentin Völker äußerte die Meinung, dass die Beurteilung von Kunst ganz im Wesentlichen von der eigenen Haltung zur Kunst abhänge.
Im Weiteren wurde auch auf die Ungleichbehandlung zwischen Bildenden Künstler/-innen und beispielsweise Musiker/-innen eingegangen. Wo Musiker/-innen zum Teil beachtliche Gagen für Auftritte bekämen, müssten sich Kunstschaffende auf wenig bis gar keine Ausstellungsvergütung einstellen und würden im schlimmsten Fall sogar ganz auf den anfallenden Kosten sitzen bleiben. Auf die Frage, was sich politisch hinsichtlich der Honorarvergütung für Kunstschaffende tue, führte Dagmar Schmidt aus, dass auf Bundesebene einiges passiere, um die soziale Situation der Kunstschaffenden grundlegend zu verbessern. Als problematisch sah sie jedoch an, dass bei der Finanzierung bundespolitischer Maßnahmen der Großteil (zirka 70 Prozent) den Kommunen zufalle. Dr. Knoblich bemängelte die grundsätzliche Finanzierungsstruktur, die darauf beruhe, dass der Bund Regeln für den Kunstbereich beschließe, die die Kommunen dann finanzieren sollten.
Kunst – Macht – Demokratie
In der zweiten Gesprächsrunde wurde die Frage diskutiert, ob und inwiefern Kunst den städtischen demokratischen Bildungsprozess beeinflusst. Die Moderationsleiterin der zweiten Sitzung, Sabine Ruß-Sattar, eröffnete die Runde mit der Feststellung, dass Kunst stetig neue Wege gehe, aus anderen Blickwinkeln auf die Wirklichkeit schaue und damit auch demokratiefördernde Konflikte herbeiführe. Als Beispiel führte sie die Kasseler „documenta“ an, die stets politisch kontrovers sei. Sie stellte die Frage an die Runde, inwiefern Kunst und Demokratie miteinander zusammenhängen. Nach Ansicht von Dagmar Schmidt existieren mehrerlei Zusammenhänge. Ihr erschien wichtig, dass ein Demokratisierungsprozess „nur durch öffentlich zugängliche Kunst verwirklicht werden kann“. Professorin Ruß-Sattar warf die Frage in den Raum, „ob Kunst und Kultur die Stadt Kassel demokratischer machen“. Dr. Thomas Bündgen vom Literaturhaus Nordhessen erwiderte, dass Kunst in der Historie stets bewiesen habe, „dass sie fähig ist, das jeweilige politische System von innen heraus zu verbessern“. Dennoch bezweifelte er stark, dass Kunst die Gesellschaft in Kassel tatsächlich demokratischer mache. Er bezweifle, „dass Kunst systemrelevant ist“. Prof. Dr. Ruß-Sattar sah bezüglich des demokratischen Anspruchs ein Problem darin, dass Kunst immer noch vorwiegend von „Bildungseliten“ wahrgenommen werde.
Kunst als Gegenkultur
Max Winkler, der Pressesprecher des Kasseler Sportvereins Dynamo Windrad e.V., wies auf die große Bedeutung von Vereinen als Rückgrat einer demokratischen Gesellschaft hin. Er betonte diesbezüglich, dass Kunst die „Schaffung einer Gegenkultur“ fördere und damit bewusst provoziere wolle, um demokratische Prozesse ins Rollen zu bringen. Prof. Dr. Mi You, Documenta-Professorin für Kunst und Ökonomien der Universität Kassel, kritisierte, dass es heutigen Kunstaustellungen hauptsächlich um den „Show-Effekt“ gehe und das Kunstsystem immer kapitalistischer aufgestellt sei. Ihrer Meinung nach sollte auch das gesehen werden, was hinter einem Kunstwerk stecke, beginnend mit der Arbeit und den Überlegungen des Kunstschaffenden .
Grundsätzlich waren sich alle Gesprächsteilnehmer einig, die Lage der Kunstschaffenden hierzulande zu verbessern; die Ansätze wichen jedoch voneinander ab. Ein Zuhörer aus dem Publikum beendete die Diskussionsrunde mit seinem spontanen, aber griffigen Einwurf: „Lasset die Gedanken fliegen“.
Wer sich die Diskussion noch einmal anhören möchte, findet die Videos zu den beiden Gesprächsrunden unter dem Titel des Symposiums “Systemrelevant!?“ demnächst auf youtube.
19.07.2022
Autor:
Simon Hafner