lumbung one
Wie man die zeitgenössische Kunst zum Verschwinden bringt. Die fifteen in der Post-documenta-Phase.
Es war einmal die Möglichkeit, eine documenta unter dem Aspekt ihres künstlerischen Gehalts zu diskutieren. Die Ausstellungskritik entzündete sich an visuellen Phänomenen, an Konzeptfragen oder Inszenierungsmethoden. Von derartigen Extravaganzen kann in der gegenwärtigen Post-documenta-Phase keine Rede mehr sein. Anstatt ihr globales Heilsversprechen publikumswirksam einlösen zu können, sieht sich das Unternehmen heillos verstickt in eine parteipolitische Konfliktstruktur, die den Blick auf die ästhetischen Dimensionen verstellt. Verschüttet vom Skandal (und vom Skandal des Umgangs mit dem Skandal) sowie dem immer schrillere Töne und bedrohlichere Formen annehmenden Mediengelärm, macht die fifteen ein Vordringen zu den künstlerischen Absichten nicht leicht. Doch sind auch die kaum geeignet, das Stimmungsniveau zu heben – zeigt sich doch, dass das gemeinschaftliche Kuratieren keineswegs die Garantie für eine bessere Ausstellung ist.
Geschichtsvergessenheit
Als das Bekenntnis zur Leistungsfähigkeit der Individualisten durch die Phobie vor dem Einzelgängerischen ersetzt und das kollektive Prinzip mit seiner Demontage der Kuratoren-Egos als Rettung aus der institutionellen Krise angesehen wurde, hätte die Findungskommission durch einen Blick in die documenta-Geschichte gewarnt sein können. 1968 hatte nämlich die Idee des Kollektiven die 4. Version an den Rand des Scheiterns gebracht. Ein vielköpfiger Rat, der demokratische Verfahrensweisen auf den Ausstellungsbetrieb übertragen wollte, bewies die Untauglichkeit des Versuchs, durch Verantwortungsaufteilung erweiterte Glaubwürdigkeit zu gewinnen – und gebar das Erfolgsmodell der alleinverantwortlichen künstlerischen Leitung. Ein halbes Jahrhundert danach ist die Erfahrung der Schwergängigkeit konsensualen Handelns vergessen. Angesichts einer erneuten institutionellen Krise ist es abermals die Ideologie des Kooperativen und des Verantwortungssplittings, auf die sich die Heilserwartung richtet – und die das Unternehmen geradewegs in eine noch verschärftere Krisenlage manövriert.
Kunstvergessenheit
Eine ähnliche Vergesslichkeit wird nun auch vom Publikum erwartet. Das hat sich nämlich mit dem Gedanken vertraut zu machen, so ziemlich alles vergessen zu müssen, was es bislang unter Kunst zu verstehen gewohnt war und von einer Ausstellung, insbesondere einer documenta, erwarten durfte. Und denjenigen, die sich nicht scheuen, die altbildungsbürgerliche K-Frage zu stellen, antwortet das Leitungskollektiv mit dem Hinweis auf ein Kunstverständnis, „bei dem die Trennung von Kunst und Leben aufgehoben ist“. Unter dieser wenig originellen Parole hat sich die documenta fifteen einen Freibrief für ihren Kunstrückzieher ausgestellt. Der Vorwurf weitgehender Kunstlosigkeit läuft nämlich ins Leere, wo eben diese Kunstlosigkeit zum Programm erhoben ist. Außerdem liegt hier das documenta-Missverständnis: Mit ihrer Propagierung der Identität von Kunst und Leben betreibt das Unternehmen seine Selbstabschaffung. Ist es doch gerade die Differenz, die Nichtübereinstimmung von Leben und Kunst, die letztere erst konstituiert und zum Erkenntnismittel über ersteres qualifiziert. Wenn alles Kunst ist, ist nichts Kunst, und eine Ausstellung erübrigt sich. Und noch in anderer Hinsicht ist das aktuelle Angebot niederschwellig angelegt: Keine Vorkenntnisse sind gefragt, keine Einübungen in neue Kunstbegriffe oder technische Medien; keine philosophischen Konstrukte zeitgeistiger Cheftheoretiker sind vorab zu bewältigen: „Es gibt keinen großen Gedanken, den man verstehen müsste“, bekennt ruangrupa-Mitglied Farid Rakun: „Es gibt nur verschiedene Erfahrungen, die alle gleich viel wert sind.“
Ausstellung mit besonderen Eigenschaften
Im Laufe ihrer Geschichte war die Ausstellungsreihe schon mancherlei – niemals aber war sie entspannt! Eher das Gegenteil: in Entstehung und Rezeption von höchster Spannung, keine Freizeitveranstaltung, sondern ihrem Publikum Anstrengungen abfordernd. Nun aber wird im Zeichen des Nongkrong das entspannte Miteinander zum Konzept, zum Inhalt und Selbstzweck: Nichtstun als Exponat. Die documenta war in ihrer Geschichte so mancherlei – nie aber humorig! Eher das Gegenteil: Mit theoretischer Ernsthaftigkeit, wissenschaftlicher Strenge und philosophischem Handwerkszeug hat sie stets versucht, den künstlerischen Zeitgeist in den Griff zu bekommen und auf den Begriff zu bringen. Jetzt aber ist Humor zu einem Grundpfeiler der Scheunenarchitektur geworden. Sehr deutlich ist dieser allerdings noch nicht in Erscheinung getreten: eher eine ideologische Verbissenheit, mit der das Lumbung-Konzept durchgesetzt werden soll.
Widerstand gegen die Staatsgewalten
Im Rahmen ihrer sozialpolitisch-appellativen Ambitionen reaktiviert die fiftteen allerorten die klassische Ästhetik des Widerstands. Der dauergereckte Zeigerfinger genügt nicht: Gestreckte Arm, geballte Fäuste, auch rote Sterne sind wieder angesagt. Das Pathos des Widerspenstigen droht mit der traditionellen Ikonografie der Rebellion und Agitation von Wandbildern, Transparenten und Plakaten. Doch wogegen sich die allgegenwärtigen Aufmüpfigkeitsgebärden richten, bleibt zumeist unerfindlich. Da die jeweiligen gesellschaftspolitischen Hintergründe mit ihren Machtstrukturen nur unvollständig mitvermittelt werden können und die zweifellos gerechten Anliegen weitgehend undurchschaubar sind, bleibt das Appellative in schierem Exotismus stecken. Die Grammatik des Protests artikuliert sich in Gestalt einer globalen Folklore, mit der sich die documenta fifteen wie ein ethnografisches Museum inszeniert. Wenn unbedingt von Kunst die Rede sein soll, dann von Volkskunst in allen regionalen Schattierungen.
Auf dem Holzweg
Der agrarisch-botanische Sektor des Unternehmens, der sich insbesondere auch in der Nutzung der Außenräume zwischen Komposthaufen und Gemüsegarten zeigt, ist bestimmt von den Praktiken alternativer Ökologie. In einer Feier vorindustrieller Produktionsweisen thematisiert er den Umgang mit Naturmythen ebenso wie mit Umweltproblemen, Ausbeutungsverhältnissen, Kolonialismusfolgen und was sonst noch in den südlichen Krisenregionen das Leben ungemütlich macht. Die materiellen Strukturen, die sie für diese hortikulturelle Ästhetik ausbildet, machen die documenta zum Tummelplatz alternativer Angebote der speziellen oder allgemeinen Weltverbesserung. Indem sie nicht mehr Formen der Kunst, sondern diffuse Solidaritätsideale dokumentiert, gewinnt sie den Charakter einer internationalen Leistungsschau des guten Willens: einer Mischung aus Abenteuerspielplatz und folkloristischer Bastelstunde, Gartenbauausstellung und Handwerkermarkt. Alles kann gut werden, wenn nur die Prinzipien der Lumbung-Praxis überall beherzigt werden.
Globalisierte Provinzialisierung
Charakteristisch für die Weltkunstausstellung in der Post-documenta-Phase ist ihre Provinzialisierung, genauer: die Provinzialisierung im Globalen. Denn nachdem Kassel nicht ohne Mühe das Provinz-Image weitgehend – nicht zuletzt mit Hilfe der documenta – abgelegt hat, setzt eine mutwillige Re-Provinzialisierung ein. Die documenta vollführt einen Salto rückwärts ins Lokale im weltweiten Maßstab. Kollektive aus aller Herren Länder und Zeitzonen beliefern den Marktplatz mit ihren regionalen Produkten aus ästhetischer Schrebergärtnerei.
Unübersehbar ist dabei eine alles durchdringende Entprofessionalisierung. Sechs Jahrzehnte nach Werner Haftmanns Weltsprache-Ideologie der Abstraktion entwirft die fifteen den Traum einer neuen Weltsprache im Zeichen des globalen Dilettantismus. Die visuelle Grundstimmung ist durchzogen von umfassender Ungelenkheit der technischen Ausführungen. Die Vermeidung von Professionalität prägt das Erscheinungsbild nahezu sämtlicher Positionen. Die Befürchtung, ein ins Soziale erweiterter Kunstbegriff werde ästhetisches Handeln durch politisches ersetzen, erweist sich angesichts des naiven politischen Selbstverständnisses der Akteure als unbegründet. Anstatt dass die „dringend erforderliche Auflösung von Eigentümerschaft und Autorschaft“ als intendierte Gefährdung des herrschenden Kunstverständnisses begriffen wird, kommt Kirchentagsstimmung auf, wenn die Publikumsgemeinde der Gleichgesinnten bemüht ist, die ausgestellten Betroffenheitsgesten mit ihren eigenen Betroffenheitsgefühlen in Einklang zu bringen.
Vergangenheitsbewältigungen
Beim Versuch, den bislang in Kassel manifestierten Ästhetik-Begriff der „Western Art“ (Richard Bell) außer Kraft zu setzen, distanziert sich die aktuelle documenta von ihrer Geschichte. Jene Spuren, die frühere Ausstellungen im Stadtgebiet hinterlassen haben, will sie dort, wo sie auf sie trifft, am liebsten verschwinden lassen. In böswilliger Missachtung der überkommenen Restposten aus glorreicher documenta-Vergangenheit schreckt man nicht davor zurück, diese Störfaktoren auf despektierliche Weise visuell zu belästigen. So ist zum Beispiel Jimmie Durhams bescheidener „Arkansas Black Apple“-Tree im Hintergrund einer ausgreifenden Informationsmaschinerie – bezeichnenderweise zum Thema Entwaldung – zu unbeachtetem Dasein verurteilt, während seine bodengleiche Beschilderung der wuchernden Vermulchung des Geländes zum Opfer fällt. Durham konnte seinen dritten Auftritt in Kassel nicht mehr erleben – ebenso wenig, dass er nun mit seiner früheren Präsenz zynisch in Bedeutungslosigkeit abgeschoben wird. Ähnliches widerfährt Walter De Marias „Vertikalem Erdkilometer“, der – ohnehin mit einem Wahrnehmungsdefizit belastet – vom Agitationszelt der australischen „Tent Embassy“ knapp verfehlt, zu zusätzlicher Unsichtbarkeit marginalisiert wird. Richard Bell erzählt mit Pathos und Betroffenheit von Landraub, „Siedlerkolonialismus“ und Okkupation – und tut genau dies: Die einheimische Kunst wird okkupiert, vernachlässigt und ihrer Wirkung beraubt.
Ebenso respektlos rückt der „Bund Deutscher Architektinnen und Architekten“ Claes Oldenburgs Spitzhacke auf den Leib. Das Großwerkzeug mit seiner gerühmten stadttopografischen Orientierung sieht sich umzingelt von der hölzern-sandigen Konstruktion eines „Luftbades“, die das ortsspezifische Kunstwerk zur gefälligen Kulisse für „kollektive Erlebnisse“ und „partizipatorische Erfahrungen“ verharmlost. Symptomatisch auch die Ausblendung des „Rahmenbaus“ von Haus-Rucker-Co, der, wenn er der inszenierten Ödnis am Friedrichsplatz unverrückbar Paroli bietet, wenigstens nachts neutralisiert sein soll. Die soeben erneuerte Beleuchtungsanlage wurde durch massive Metallabdeckungen unwirksam gemacht, um dem überflüssigen Großkunstwerk keinen Schimmer zu gönnen.
Selbstverkompostierung
So ist diese documenta nur zu akzeptieren, wenn man akzeptiert, dass sie keine ist. Das Ereignis ist ein Ärgernis, wenn man es als documenta begreift; es kann eine spannende Erfahrung sein, wenn man davon absieht. Mit ihrem Naturalienkult, ihrer biologischen Attitüde des Ernte-Einfahrens, -bewahrens und -verteilens, des Pflanzens, Säens und Wachsens, wächst sich das Unternehmen zu einer internationalen Landwirtschaftsschau aus. Damit hat sich ein Kreis geschlossen: Die documenta begann 1955 im Rahmen einer Gartenschau – und sie endet 2022 als eine solche. Was dem Solisten Szymczyk nicht gelang, scheint den vereinten Kräften von ruangrupa möglich: die Demontage der documenta als Kunstausstellung. Denn wie Szymczyk die Institution in kollektive Kleingemeinschaften auflösen wollte, möchte ruangrupa die „documenta fifteen“ in „lumbung one“ überführen und eine neue Traditionslinie etablieren. Und wenn, wie angedroht, in Zukunft die Politik das kuratorische Geschäft übernimmt, hat die documenta endgültig Glaubwürdigkeit und Autorität verloren. Niemand wird an die Fulda reisen wollen, um zu besichtigen, wie hier Staatskunst vorgeführt wird. Was der documenta eine Zukunft öffnen soll, wird sie ihr verbauen: Der Zugriff der politischen Sphäre ist das Problem, als dessen Lösung er sich ausgibt.
30.08.2022
Text:
Dr. Harald Kimpel
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 111, Aug/Sept 2022
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