Mein WG-Leben in Kassel
Ein Erfahrungsbericht
Ob der Umwelt zuliebe, aus Abenteuerlust oder aus finanziellen Gründen – gerade viele Studierende, Azubis oder jüngere Berufstätige entscheiden sich für das Leben in einer Wohngemeinschaft. Dabei machen sie unterschiedliche Erfahrungen: von „nie wieder WG“ bis „das ist voll mein Ding!“
Gemeinsames Frühstück am Wochenende, Brettspielabende und eine Haushaltskasse sind Dinge, die ich mit dem WG-Leben assoziiere. Meine erste WG-Erfahrung machte ich 2020, kurz vor dem zweiten Lockdown. Als alle Geschäfte und Restaurants geschlossen hatten, unternahmen wir in unserer Freizeit viel miteinander. Wir gingen auf lange Spaziergänge, schauten uns Filme an, und als es im Winter 2021 so viel schneite, gingen wir nachts Schlittenfahren.
Bewerbungsgespräche
Damals wollte ich noch mit meiner Katze umziehen. Ich installierte mir alle Apps auf mein Smartphone, mit denen ich WG-Zimmer suchen konnte. Gründlich las ich mir alle Anzeigen zu freien Zimmern durch und stellte mich per Nachricht oder per Telefon vor. Damit es zu keinen Überraschungen kam, erwähnte ich die Katze sofort. Für einige WGs war das sofort ein Ausschlusskriterium. Trotzdem bekam ich viele Besichtigungstermine, bei denen ich die Möglichkeit hatte, die WGs kennenzulernen und sie mich. Jedes Mal war ich ein bisschen nervös und hatte das Gefühl, ich würde zu einem Bewerbungsgespräch gehen. Ich lernte studentische und Berufstätigen-WGs kennen, mit einer hohen Bandbreite bei der Vorstellung von Sauberkeit. Irgendwann entschied ich mich dazu, die Katze bei meinen Eltern zu lassen, wo sie mehr Auslauf als in einem WG-Zimmer hatte und suchte allein weiter.
Das Gespräch mit der WG, in die ich schließlich einzog, hatte ich, gerade nachdem ich von einer langen Fahrradtour mit meinem Bruder
zurückkam. Noch mit meinem ganzen Reisegepäck stieg ich bis in die vorletzte Etage des Altbaus in Wehlheiden und kam ganz außer Puste an der Wohnungstür an. Ich scherzte noch, dass ich mit dem Gepäck sofort einziehen würde, und dann setzen wir uns mit Getränken an den Esstisch und unterhielten uns eine Weile. Wir verstanden uns auf Anhieb und das Gespräch lief locker ab. Schon nach ein paar Tagen bekam ich die Zusage. Das Zimmer, welches frei wurde, lag im Dachgeschoss, wohin eine Treppe durch den WG-Flur führte. Es hatte zwei große und ein kleines Dachfenster und war so geräumig, dass da locker auch ein Kunstatelier reingepasst hätte.
Um die Wette putzen
Wir waren nun eine Vierer-WG. Gegenüber der schwarz-weiß karierten Fliesen, die die Küchenwand entlang der Arbeitsfläche und Herd zierten, hing unser Putzplan. Darauf standen Aufgaben wie Bad und Küche putzen Müll rausbringen und Staubsaugen. Die Tätigkeiten haben wir einander nicht zugewiesen. Stattdessen haben wir uns eingetragen, nachdem wir eine Aufgabe erledigten. Mich packte der Eifer, meinen Namen besonders oft auf den Putzplan zu schreiben und ich räumte mehr auf, als ich es sonst von mir selbst kannte. Einerseits war ich froh darüber, ich war zum Beispiel immer motiviert, direkt nach dem Essen zu spülen, andererseits schlich sich bei mir die Sorge ein, dass es sich ändern würde, wenn ich irgendwann alleine lebe. Später hängten wir den Putzplan ab, da wir auch ohne ihn hinter uns selbst aufräumten und das Putzen war kein Wettbewerb mehr, sondern gehörte einfach zum Alltag.
Picknick mit Zimtschnecken
Kurz nachdem ich einzog, planten wir eine kleine WG-Feier mit Verkleidungen. Es gab keinen Dresscode, aber alle sollten selbstgebastelte Masken tragen. Meine Schwester kam auch zu Besuch und wir backten Zimtschnecken. Wegen der Kontaktbeschränkungen zu der Zeit schalteten sich Freunde über einen Videoanruf dazu und wir machten ein Indoor-Picknick auf dem Boden meines Zimmers und stellten den Laptop mit dem Videoanruf auf einen Stuhl. So waren unsere Gesichter, unter den Masken, auf gleicher Höhe. Es gab eine Seekuh, ein Faultier und gruselige Gesichter aus Pappe – allesamt sehr kreativ. Das Licht im Zimmer war gedimmt und wir hatten Kerzen für eine gemütliche Atmosphäre aufgestellt. Nach dem Essen spielten wir Gesellschaftsspiele und die Stimmung war ausgelassen. Ein paar Tage darauf kam der zweite Lockdown.
Gemeinsam durch eine einsame Zeit
Der Lockdown dauerte mehrere Monate. Von nun an sahen wir fast nur uns gegenseitig, in unseren eigenen vier Wänden. In der Zeit lernten wir uns besser kennen, da wir fast jedes Wochenende gemeinsam etwas unternahmen. Mal bastelten wir Drachen und probierten sie auf der Wiese der Goetheanlage aus, ein andermal wanderten wir zur Dönche, um dort die Kühe anzuschauen. Da wir fast jeden Abend zusammen kochten, führten wir eine Haushaltskasse ein und teilten uns alle Lebensmittel. Sonntags holten wir bei der Bäckerei um die Ecke Brötchen, und irgendwann kannten uns die Verkäuferinnen dort bestimmt. Meine Uni-Vorlesungen und -Plena fanden online statt, weshalb ich mir einen Arbeitsplatz im Zimmer gestaltete. Auf eine der Schrägwände malte ich abstrakte Formen mit Acryl-Farbe, auf die anderen Wände kamen Poster und Postkarten mit Illustrationen, die ich schön fand. Meine Zimmerpflanzen fühlten sich so wohl, dass sie trotz anstehendem Winter neue Blätter bekamen und auch ich lebte mich gut ein. Damals stand mein Bett direkt unter den Dachfenstern, und besonders in klaren Nächten genoss ich es, die Sterne zu beobachten.
Nächtliche Schlittenausflüge
Eines Morgens lag auf meinen Dachfenstern eine dicke Schneedecke, es musste die ganze Nacht geschneit haben. Vorsichtig, damit der Schnee nicht auf mein Bett rutschte, schob ich das Fenster auf, um nach draußen zu schauen und frische Luft reinzulassen. Es roch frostig, und die Sonne, die gerade dabei war, über die schneebedeckten Dächer zu steigen, strahlte zwar rosiges Licht, aber keine Wärme aus. Endlich sah es nach Winter aus! Das brachte Abwechslung in unseren Alltag und spazieren gehen brachte viel mehr Freude. Tagsüber ging ich im Auepark vor der Kunsthochschule Schlittschuh laufen und am Abend, als meine Mitbewohner von der Arbeit nach Hause kamen, holten sie ihren Holzschlitten vom Dachboden und wir zogen, schon im Dunkeln und mit Stirnleuchten gewappnet, los zu den nächstgelegenen Hügeln. Abwechselnd wichen wir bei der Abfahrt einem Baum nach dem anderen aus. Mit dem Fahrtwind in meinem Gesicht fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt.
Zwischenmieten
Im Frühling machte ich für drei Monate ein Praktikum in der Nähe von Freiburg im Breisgau. In meinem Kasseler WG-Zimmer lebte für die Zeit ein Zwischenmieter und ich lebte in der Zeit auch als Zwischenmieterin eines WG-Zimmers in Freiburg. Als ich nach Kassel zurückkam, war der Lockdown vorbei und der Alltag holte meine Mitbewohner und mich ein.
In den Semesterferien war ich viel außerhalb von Kassel unterwegs und im Semester hielt ich mich, sooft es ging, in der Uni auf. Wenn ich nach Hause kam, hatten sich meine Mitbewohner schon in ihre Zimmer zurückgezogen und wenn ich morgens zum Frühstücken aufstand, waren sie bereits auf dem Weg zur Arbeit. An den Wochenenden holte ich die Zeit mit Freunden nach, die ich lange nicht gesehen hatte, oder fuhr meine Eltern besuchen. So kam es, dass meine Mitbewohner uns über einen langen Zeitraum hinweg nur kurz für ein Grußwort zwischendurch sahen und uns ein wenig auseinanderlebten. Dinge wie Kochabende oder Ausflüge, für die wir vorher keine langen Absprachen brauchten, hatten nun feste Termine und auch die passten nicht immer allen. Obwohl unser Alltag nicht mehr gemeinsam stattfand, fand ich das Zusammenleben angenehm. Wir hielten uns weiterhin an die ungeschriebene Putzordnung und respektierten die gegenseitige Privatsphäre.
Auf eigenem Weg in die Zukunf
Im kommenden Winter löst sich unsere WG auf, da alle ihren geigenen Weg gehen. Diese erste WG-Erfahrung werde ich immer dankbar in Erinnerung behalten, denn sie war genau das, was ich in der Zeit gebraucht habe. Als ich deises Mal auf die Schule nach einem neuen Zimmer ging, wusste ich genau, was ich wollte, machte nur drei Besichtigungen und entschied mich schon am zweiten Besichtigungstag für meine zukünftige WG. Bei einem dieser Besichtigungstermine stellte mein Gesprächspartner fest: „Ein WG-Casting bietet die Möglichkeit Leute kennenzulernen, die man sonst nie getroffen hätte!“
11.01.2023
Text und Illustrationen:
Maria Bisalieva
Auch zu lesen im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 113, Dezember/Januar 2022/23
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