Bewegt durch Raum und Zeit
Menschen aus verschiedenen Generationen und Kulturkreisen bewegt das Tanzen miteinander. Ob Paartanz, herausfordernde Schrittfolgen oder entspannter Improvisationstanz: Jede und jeder kann tanzen. Und es ist nie zu spät, damit anzufangen!
Laute 50er-Jahre Musik riss mich aus dem Schlaf. Auf dem Flur hörte ich Schritte und Lachen. Ein Blick auf mein Handy bestätigte mir, dass ich mich noch im Jahr 2023 befand. Besonders lange konnte ich dem aufweckenden Rhythmus nicht widerstehen und binnen Sekunden sprang ich aus dem Bett und ließ mich von dem alten Lied mitreißen. „So klingt sie also!“, dachte ich, während ich mich locker durch mein Zimmer bewegte. Schon bei meinem Einzug in die Mehrgenerationen-WG fiel mir die große Jukebox vor der Treppe zum Obergeschoss auf und ich fragte mich immer, wie sie wohl klingt. An diesem Vormittag bekam meine Mitbewohnerin Heike Tanzbesuch. Sie hatte Freundinnen und Freunde zum Lindy Hop Tanzen eingeladen und ließ die Jukebox dafür schonmal warmspielen. Einige Lieder später, ich improvisierte noch immer Bewegungen in meinem Zimmer und kam langsam ins Schwitzen, hörte ich die Türklingel. Nach einer herzlichen Begrüßung verschwand Heike mit ihrem Tanzbesuch im Wohnzimmer.
Heike Neumeyer ist 59 und eine begeisterte Tänzerin seit ihrem 13. Lebensjahr. Sie hat verschiedene Tanzstile, wie Jazz, Hip-Hop, Ballett und Swing ausprobiert. Am meisten inspiriert sie der Stepptanz. Schon als junges Mädchen wusste sie, dass sie eines Tages Stepptanz unterrichten möchte. „Mein Vater hatte ein tolles Rhythmusgefüh und hat immer vorgesteppt“, erzählte Heike begeistert. „Als ich nach Kassel kam, habe ich das erste Mal gesteppt, das war 1985, bei einem Volkshochschulkurs“. Heute gibt sie selbst Stepp-Unterricht. Darüber hinaus verbringt sie auch ihre Freizeit tanzend. Mehrmals die Woche geht sie gemeinsam mit ihrem Partner Joachim zum Swing-Tanzen.
Generationen verbinden
Als Heike mir über ihre Liebe zum Tanzen berichtete, konnte ich ihre Gefühle nachvollziehen. „Tanzen ist für mich pure Freude! Dabei kann ich die Zeit vergessen“, sagte sie. Vielleicht ist Tanzen zeitlos: Schon unsere Vorfahren haben getanzt und die Bewegungsabläufe beispielsweise bei Gruppentänzen auf Volksfesten an die nächste Generation weitergegeben. Tanzen ist in jedem Alter möglich. Kleine Kinder freuen und bewegen sich ganz intuitiv, sobald Musik läuft, Jugendliche gehen auf ihren ersten Partys zu ihren Lieblingshits ab und auch die älteren Menschen vergessen ihre Sorgen, während sie das Tanzbein schwingen. Eines Tages begleitete ich Heike und Joachim zu einem offenen Swing-Tanzabend. In der abgedunkelten Halle mit Holzboden lief Musik. An den Seiten standen kleine, runde Tische und Stühle und es gab eine Theke mit Getränkeverkauf. Es herrschte eine heitere Stimmung bei den Menschen, die nach und nach erschienen, um den Abend tanzenderweise gemeinsam zu verbringen. Zu Beginn stellten sich die im Tanz führenden und folgenden Personen als Paare in einem Kreis auf und die Kursleitenden führten eine Tanzschrittabfolge vor. Nach jedem Lied wurden die Paare durchmischt, damit die Tanzschritte unabhängig vom Partner oder Partnerin im Kopf bleiben. Zuerst war ich darauf fokussiert die Schritte zu lernen, doch nach einigen Runden entspannte ich mich und mir gelangen Unterhaltungen mit den Personen, denen ich beim Tanz folgte. So lernte ich gleichaltrige, Menschen im Alter meiner Eltern sowie Rentnerinnen und Rentner kennen. Sie alle hatten die Tanzschritte ziemlich gut drauf und vor allem gelangen sie ihnen mit einem breiten Grinsen im Gesicht!
Das Leben tanzen
Eine feste Schrittabfolge oder Paartanz trifft nicht jeden Geschmack. Dafür gibt es so viele verschiedene Tanzrichtungen und Anlässe wie Situationen im Leben. So wie Biodanza zum Beispiel, was auf Spanisch „Tanz des Lebens“ bedeutet. Vor ungefähr drei Jahren schnupperte ich in eine Biodanza-Stunde unter freiem Himmel. An einem warmen Sommertag versammelten sich die Teilnehmenden auf einer Wiese vor einem Haus, umgeben von Natur. Spielerisch und mit Leichtigkeit kamen die Anwesenden, einige davon barfuß, zum Tanzen. Zwei Biodanza-Anleiterinnen moderierten, tanzten hin und wieder kurz vor, wie ihr Tanz jeweils aussehen könnte und motivierten ihre Tänzerinnen und Tänzer, einfach loszulegen und den Impulsen ihres Köpers zu folgen. Dabei gab es keine Schritt-Vorgaben. Deshalb horchten alle in sich hinein und führten die Bewegungen aus, die sie zu der Musik fühlten und die ihrem Körper guttaten. So viele Menschen, die gleichzeitig improvisierten: Das war ein befreiender Anblick. Ziemlich schnell verflogen bei mir die Zweifel, dass die Mittanzenden die eine oder andere eine Bewegung, die ich machte als, komisch abstempeln würden und es gelang auch mir auf meinen Körper, auf die Musik und die Natur um mich herum zu achten anstatt mir Gedanken um die Menschen in meiner Umgebung zu machen. Ich tanzte so, wie ich es auch allein in meinem Zimmer machen würde.
In einer Welt, in der niemand aus der Reihe tanzen möchte, tut es besonders gut es mal bewusst zu tun und dabei aus der eigenen Komfortzone zu treten. In den Kasseler Biodanza-Gruppen nehmen Personen zwischen 40 bis über 70 Jahren teil und da jede und jeder aus sich heraus tanzt bietet der Tanz des Lebens eine niedrigschwellige Möglichkeit ins Tanzen und in die Bewegung zu kommen und anderen tanzinteressierten Menschen auf eine intensive Weise zu begegnen, ohne auch nur ein einziges Wort sagen zu müssen. Nenel, ein sehr erfahrender Biodanza-Anleiter aus dem Süden Brasiliens, der bei Rolando Toro, dem chilenischen Begründer dieser Methode, seine Ausbildung absolvierte, fasste es bei einem seiner Workshops in Deutschland so zusammen: „Wenn wir aufhören zu reden, verstehen wir uns!“
Begegnung bei Bewegung
Der Austausch mit anderen Tanzenden ist ein wichtiger Bestandteil von Tanzkursen. Je älter Menschen werden, desto schwieriger wird es, neue Kontakte zu knüpfen. Deshalb bieten sich gemeinsame Hobbies dafür an, auch ohne vorherige Terminvereinbarung regelmäßig Menschen mit ähnlichen Interessen wiederzusehen. Zusätzlich zum Wetter kommt ein weiteres Gesprächsthema dazu. „Es haben sich viele Freundschaften entwickelt“, beobachtete Heike in ihren Stepptanz-Kursen. Sie hat sich über den Tanzunterricht hinaus darum bemüht, soziale Kontakte unter den Tanzenden herzustellen, indem sie sich gemeinsam Filme anschauten oder zu Ausstellungen gingen. „Wir waren bei der Dali-Ausstellung in Fulda und schauten uns Tanzfilme an. Oder den Film Young@Heart übers Singen, denn Tanzen und Singen machen glücklich.“
Erfahren im Leben, jung im Tanz
Menschen jedes Alters können mit dem Tanzen anfangen. Heike unterrichtet zwei „Oldies“-Gruppen für Personen über 60: Einen Kurs für Anfängerinnen und Anfänger sowie einen Aufbaukurs.
„Tanzen im Alter tut dem Körper und Geist gut. Die tanzende Person und die Gruppe sind durch die Musikalität, die gemeinsame Präsenz und die Kreativität miteinander verbunden. Es ist auch eine Übung für die Koordination und das Gleichgewicht“, zählt Heike die Vorteile vom Tanzen für ältere Menschen auf. „Es ist ein schönes Gefühl, die Geheimnisse des Stepptanzes sowie meine Freude daran an interessierte Menschen weiterzugeben. Außerdem macht es Spaß, wenn wir gemeinsam etwas schaffen, indem wir zum Beispiel ein Projekt wie ein abendfüllendes Programm auf die Beine stellen!“ Aktuell bereitet Heike mit ihren Tanzgruppen bereits die Winteraufführung vor. „Als ich meine erste Oldie-Gruppe auf der Bühne hatte, war der Aufforderungscharakter besonders hoch. Die älteste Mittänzerin war um die 80 Jahre alt und viele der Zuschauenden dachten sich, als sie diese Frau sahen: Ach, dann kann ich das ja auch noch lernen!“
19.10.2023
Text und Illustration:
Maria Bisalieva
Auch im StadtZeit Kassel Magazin Nr. 117 zu lesen oder auch
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