„Leerstand: Lasst uns etwas tun!“
Bestehende, nichtgenutzte Objekte könnten in Kassel Platz für etwa 2.500 bezahlbare Wohnungen sowie Räume für Kreative und die Vereinsarbeit bieten. Denn der Leerstand von Gebäuden, wie er sich aktuell darstellt, kostet unsere Gesellschaft sehr viel.
StadtZeit-Gespräch (SZ) mit Prof. Dr. Gabu Heindl (GH), Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel
SZ: Frau Heindl, Sie forschen mit Ihrem Team zum Thema „Leerstand in Kassel“. Ihren Berechnungen zufolge stehen in unserer Stadt in über 300 Gebäuden Flächen von über 220.000 Quadratmetern leer. Umgerechnet entspricht das über 30 Fußballfeldern. Was bedeutet das für eine Stadt wie Kassel?
GH: Für die Größe von Kassel ist das soviel, dass man aus meiner Perspektive und auch vor dem Hintergrund, dass es in unseren Städten eine dringliche Wohnungsfrage gibt, unbedingt an dieses Thema herangehen sollte. Denn, wie wir festgestellt haben, gibt es viel mehr Leerstand als angenommen.
SZ: Was ist das Problem mit dem Leerstand?
GH: Eine Wohnung oder ein Haus einfach leer stehen zu lassen, kostet kaum etwas. Zumindest die Besitzenden. Mit unseren Forschungen zeigen wir, dass Leerstand uns alle, also die Gesellschaft und die Öffentlichkeit, sehr viel kostet.
SZ: Was sind das für Kosten?
GH: Rund um jedes leerstehende Haus oder auch rund um größere, ungenutzte Areale, denken Sie beispielsweise an die Salzmann-Fabrik in Bettenhausen, muss die städtische Infrastruktur ständig aufrechterhalten werden. Gleichzeitig zwingt uns jeder Leerstand im Zentrum einer Stadt bzw. in städtischen Bereichen, die wir wegen des Leerstands nicht nutzen können dazu, dass man an den Rändern der Stadt weitere Flächen erschließen, Straßen bauen, Grünflächen versiegeln muss. Genau das kann ja niemand wollen. Leerstand hat also auch eine enorme ökologische Dimension und daher eine für den Klimaschutz.
„Soziale Frage und ökologische Problematik zusammendenken“
SZ: Was fordern Sie vor diesem Hintergrund?
GH: Es ist dringlich an der Zeit, hier etwas zu unternehmen und darauf zu achten, dass wir zwei Dinge zusammenbringen: nämlich die soziale Frage, bezahlbare Wohnungen zu haben, und die ökologische Problematik, dass wir nicht weiter auf der grünen Wiese bauen wollen. Nichts ist naheliegender und effizienter, als zuerst den schon bebauten Raum zu nutzen.
SZ: Wie haben Sie sich mit Ihrem Team der Aufgabe genähert, die Leerstände in Kassel zu erfassen?
GH: Wir haben das anhand konkreter, sichtbarer Häuser gemacht. Oder auch solcher, die in den Medien als leerstehend beschrieben werden. Die Studierenden sind darüber hinaus mit offenen Augen durch die Stadt gegangen und haben jeden offensichtlichen Leerstand festgehalten und kategorisiert.
SZ: Mit welchem Ergebnis?
GH: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Deutschland bei 45 Quadratmeter liegt, könnten diese von uns festgestellten 220.000 Quadratmeter bei entsprechendem Umbau und Umnutzungskonzepten Wohnflächen für fast 5.000 Menschen ergeben – oder auch bezahlbaren Raum bieten für kulturelle Nutzungen und Vereinsarbeit, der auch fehlt.
Wichtig zu wissen ist, dass man diese Fläche nicht eins zu eins umrechnen kann. Wir haben die Zahlen in mehrfacher Hinsicht geprüft und nachgerechnet, um wirklich tragbare Zahlen zu haben. Wir gehen aber zudem davon aus, dass die eigentlichen Leerstands-Zahlen noch höher liegen.
„Nicht neu bauen, sondern umbauen!“
SZ: Jetzt ist Leerstand nicht gleich Leerstand, oder?
GH: Wir haben Leerstände kartografiert, die es schon lange gibt. Also die Art von Leerständen, die dysfunktional oder spekulativ sind. Einen gewissen fluktuativen Leerstand braucht es natürlich, sonst könnte niemand Wohnung wechseln. Jenseits davon gibt es enorm viel strukturellen Leerstand, beispielsweise Industriegelände, Bürogebäude, ganze Wohnhäuser oder auch Villen, wovon es in Kassel einige gibt. Über die Bandbreite an Objekten war selbst ich erstaunt.
Ein komplexes Verhältnis: Kaum bezahlbare Wohnungen, der Wohnungsmarkt in Kassel ist angespannt, während viele Gebäude leerstehen, die man für Wohnnutzung umbauen könnte.
SZ: Nun eignen sich nicht alle Objekte für die Schaffung von Wohnraum…
GH: Sie eignen sich nicht gleich gut oder brauchen gute Konzepte, das stimmt. Jedoch: Es finden sich weltweit großartige Beispiele wie in den unterschiedlichsten Gebäudetypen gelebt werden kann. Relevant ist hier die Sicherung der Leistbarkeit.
SZ: Wenn Sie Ihre Zahlen ins Verhältnis zu dem von der Stadt Kassel formulierenden Ziel setzen, 800 Wohnungen pro Jahr zu bauen, zu welchem Fazit kommen Sie?
GH: In dem von uns ermittelten Leerstand könnten für die nächste Zeit ausreichend Menschen Platz finden. Von daher würde ich idealerweise sagen: Nicht neu bauen, sondern umbauen – solange es bestehenden Raum gibt, der umgenutzt werden kann. Dafür sind nun aber besonders die Eigentümer und Eigentümerinnen der schon lange leerstehenden Gebäude gefragt.
„Leerstand hat gerade in der Wohnungskrise Potenzial“
SZ: Welche bekannten Immobilien haben Sie da konkret im Kopf, die sich in Wohnraum umwandeln lassen könnten?
GH: Bei den ungenutzten Arealen denke ich an langeseigene Villen, oder auch Teile des Henschel-Areals in Rothenditmold. Bei den Objekten beispielsweise an den alten Standort des Fraunhofer Instituts, das alte Arbeitsamt, das alte Versorgungsamt, das Ruru-Haus oder das noch leerfallende Gebäude der Kasseler Sparkasse, wenn sie in ihren Neubau umgezogen ist. Das alte Polizeipräsidium sollte öffentlich bleiben und erinnerungskultur-gemäß saniert werden. Es gibt eine Menge an leerstehenden Häuser, die längst und intensiv öffentlich diskutiert wurden und werden.
SZ: Was gilt es aus Ihrer Perspektive zu tun?
Es ist wichtig, dass wir uns fragen, wie es sein kann, dass diese Häuser so lange leer stehen und gleichzeitig auch die Gründe in ihrer Vielschichtigkeit beforschen.
Für die zukünftige Stadtplanung ist es wichtig, dass die Menschen in der Stadt und auch die politischen Mandatsträgerinnen und -träger gemeinsam sagen: „Lasst uns etwas tun!“
Auch die Verantwortlichen des Landes Hessen müssen dazu aufgefordert werden. Der Antrieb für unsere Forschungen war genau das: Zu zeigen, wie Leerstand unseren Alltag bestimmt, und aber auch, welches Potenzial er gerade im Kontext der Wohnungskrise hat. Und dass wir uns alle damit auseinandersetzen und überlegen sollten, was sich dagegen tun lässt.
Das Allerwichtigste, um zu beginnen, ist schon mehr Wissen darum – und eine öffentliche Debatte über dieses Thema.
Einige prominente Leerstände von vielen in Kassel, die Entwicklungspotenzial hätten: das ehem. Arbeitsamt, das Henschel-Areal, das alte Polizeipräsidium, das ehem. Versorgungsamt und das Salzmann-Gelände. Bilder: Klaus Schaake.
20.08.2024
StadtLabor-Podcast zum Thema „Leerstand in Kassel“
Hier zu hören:
www.klaus-schaake.de/podcasts
Gabu Heindl,
Architektin und Professorin am Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel, Fachgebiet für BauKatharina Gossow wirtschaft und Projektentwicklung.
Klaus Schaake,
StadtZeit Gespräch-Moderator begleitete von 2012 bis 2019 die Öffentlichkeitsarbeit des Förderprogramms „Aktiver Kernbereich Friedrich-Ebert-Straße“. Seit 2020 engagiert sich der Herausgeber des StadtZeit Kassel Magazins auch für das mittendrin-Onlinemagazin, das aus dem gedruckten Quartiersmagazin hervorging.