In diesem Jahr wird die documenta 65
“Immer wieder freitags…”: Die Serie des Vereins der Gäste- und Museumsführer in Kassel und Region e.V.
Gelegenheit, sich mal an die documenta I zu erinnern.
Mit der documenta ist es ja, wie mit Geburtstagen am 29. Februar. Man hat nicht jedes Jahr Geburtstag, aber man wird jedes Jahr ein Jahr älter.
Ich war 1955 sieben Jahre alt und da ich damals in der Nähe der Karlsaue wohnte, habe ich natürlich vordergründig die Bundesgartenschau erlebt, zumal meine Eltern eine Familiendauerkarte hatten. Mit der Kunst hatte ich damals noch wenig im Sinn, aber ich kann mich noch sehr genau erinnern, was meine Eltern von „dieser Kunst“ hielten. Unverständnis auf der ganzen Linie. „So etwas als Kunst zu bezeichnen war einfach unerhört“ und das obwohl meine Eltern sehr weltoffen und großzügig waren.
Hier nun der Beginn der Kunstausstellung, die zur weltgrößten Ausstellung der Moderne geworden ist, was natürlich 1955 noch niemand ahnen konnte.
Die documenta I fand vom 15. Juli 1955 bis zum 18. Sept. 1955 statt.
Die Bundesgartenschau 1955 sollte den Wiederaufbau der Region beschleunigen. Als der Kasseler Maler und Kunstprofessor Arnold Bode von der vagen Idee erfuhr, die Bundesgartenschau durch eine begleitende Kunstaustellung zu veredeln, schlug seine Stunde. Schon als Student und junger Maler hatte er in den 1920er Jahren an Ausstellungen moderner Kunst in der Kasseler Orangerie mitgewirkt. Das Vorhaben, dem deutschen Publikum einen Überblick über die Kunst des 20. Jahrhunderts zu ermöglichen, war neu und absolut zeitgemäß. Zudem konnte man bei dieser Gelegenheit auch jene Werke wieder zeigen, die die Nationalsozialisten als „entartet“ verfemt hatten. Die heilende, erzieherische Kraft der Kunst sollte in diesem Sinne auf das geistige Erbe der Nazis einwirken, sollten beitragen, es unwirksam zu machen.
Gemälde waren nach ersten Entwürfen als Kern der Schau vorgesehen. Um die Gemälde herum sollten Skulpturen zum Beispiele der Architektur sowie Theater und Filmaufführungen gruppiert werden. Es war Bodes Absicht, die damals noch heftig umstrittene abstrakte Gegenwartskunst durch den Verweis auf ihre Vorläufer aus der Vorkriegszeit zu legitimieren. Gegner der Abstrakten Kunst fanden sich damals sowohl im rechten als auch im linken Lager, vor allem aber in der Mitte der Gesellschaft, wo viele Kunstfreunde den Verlust des Menschenbildes in der abstrakten Kunst beklagten. Hier wollte die documenta ansetzen. Knapp die Hälfte der damals gezeigten 670 Werke war nach 1945 entstanden. Die meisten Künstler stammten aus Deutschland und aus Frankreich danach folgte Italien. Bodes Revision der Moderne lief auf einen bruchlosen Siegeszug des Abstrakten hinaus. Denn mit dem Bekenntnis zur abstrakten Kunst sollte auch ein kulturpolitisches Signal gen Osten gesendet werden. Der Eiserne Vorhang verlief ja nicht weit von Kassel, wo zu jener Zeit das Dogma des Sozialistischen Realismus herrschte – einer figürlich-naturalistischen Propagandakunst.
Wie kam die Kasseler Ausstellung zu ihrem einprägsamen Namen? Bode hatte den Begriff documenta statt dem trockenen Begriff Dokument bzw. Dokumentation gewählt. Er schrieb das Wort mit c und klein, was ein modernes und leichtes Flair mitbrachte, und sowohl Intellektualität als auch den Anschluss an die zeitgenössische Werbegrafik (und damit die Konsumwelt) demonstrierte. hieß damals doch eine Dekorserie von Bode für Göppinger plastics abstracta Im Rückblick stellte die New York Times anerkennend fest „Niemand hätte zu dieser Zeit erwartet, dass die Ausstellung populär sein könnte – aber sie erfuhr eine überwältigende Reaktion sowohl von deutschen als auch ausländischen Kunstliebhabern“.
Ihren Erfolg hatte die erste documenta vor allem drei Faktoren zu verdanken – dem offenen Konzept, dem faszinierenden Ausstellungsort und Bodes professioneller Inszenierung und Lichtregie. Er war eben nicht nur Kurator, sondern auch Künstler und Designer. Die wirkungsvolle Inszenierung hing mit dem Zustand des im Krieg ausgebrannten Fridericianums zusammen. Ohne die auffällige Ruine wäre die documenta wohl gar nicht zustande gekommen. Die Kunstwerke wurden vor nackten Wänden in Szene gesetzt, so konnte Bode den ästhetischen Eigenwert des Materials hervorheben.
Bei der Schau „Kunst des XX Jahrhunderts“ waren insgesamt 670 Exponate von 148 Künstlern präsentiert worden.
Triumph der Moderne oder Genius der Kunst. Mit derart euphorischen Schlagzeilen wartete die Presse auf.
Die zustimmende Kritik und der gute Besucherzuspruch – waren doch statt der erwarteten 50.000 Gäste 130.000 zur Kunstausstellung gekommen – überraschten selbst die Veranstalter.
Zu den Besuchern zählte immerhin auch unser damalige Bundespräsident Theodor Heuss – von ihm kam der Ausspruch „für diese Kunst bin ich wohl zu alt“.
Die HNA schrieb über das Jahr 1955:
Kunst in der Ruine
Parallel zur Bundesgartenschau schlug die Geburtsstunde der documenta –
Lücken schließen wollte der Kasseler Künstler und Hochschullehrer Arnold Bode (1900 – 1977) mit der Kunstausstellung documenta. Die Lücken, die durch zwölf Jahre Nazi-Herrschaft in der Kunstwahrnehmung in Deutschland entstanden waren. In der Einladungskarte zur Eröffnung hieß es, es sei für die Kunst an der Zeit, „die Wege und Punkte des Erreichten auch in Deutschland einmal sinnfällig zu markieren“. Als Begleitausstellung zur Bundesgartenschau öffnete die erste documenta im Fridericianum am 15. Juli 1955. Die zeigte zum einen die international bedeutenden Werke der klassischen Moderne seit Anfang des 20. Jahrhunderts und bot zum anderen einen Überblick über den aktuellen Stand der europäischen Kunst. Arnold Bode und seiner Mitstreiter erhielten 200.000 Mark Fördergeld von Stadt, Land und Bund um das Projekt stemmen zu können. Als Standort wählte man das Friedericianum, jenes erste öffentlich zugängliche Museumsgebäude des europäischen Festlandes. Nach der Kriegszerstörung war der Barockbau nur äußerlich provisorisch hergestellt worden, innen aber noch ein Rohbau. Ziegelsteine als Hintergrund für die Bilder boten ebenso reizvolle Kontraste wie transparente Vorhänge, die Bode anbringen ließ. Wie wichtig die Ausstellungsarchitektur für die Wirkung einer Kunstschau ist, hat Bode mit seiner visionären Bilder- und Skulpturen-Dramaturgie gezeigt. Präsentiert wurden u. A. Arbeiten von Henry Moore, Wilhelm Lehmbruck, Picasso, Kandinsky, Giorgio de Chirico, Oskar Schlemmer, Paula Modersohn-Becker und Max Ernst. Ausgestellt waren 670 Werke von 148 Künstlern. 130.000 Besucher ließen sich vom Kunsterlebnis anlocken. Schon damals veränderte die Kunstschau (und dazu natürlich die Bundesgartenschau) die Stadt. Die Flaneure auf den Straßen waten internationaler, das Treiben lebendiger als sonst. Das Café Paulus auf der Treppenstraße reagierte auf die veränderte Stimmung mit einer Maßnahme, die damals fast so revolutionär und unerhört wirkte wie manches Kunstwerk; man stellte draußen Stühle auf.
Immer wieder freitags…
In einer E-Mail an seine Mitglieder schrieb der Vorstand der des Vereins der Gäste- und Museumsführer in Kassel und Region e.V.: “Nachdem nun auch die Wasserspiele bis auf Weiteres abgesagt wurden und tatsächlich nicht abzusehen ist, dass es in den nächsten Wochen Führungen geben wird, haben wir uns im Vorstand überlegt, wie wir diese Zeit dennoch sinnvoll nutzen können. So ist die Idee entstanden, dass wir ab sofort jeweils freitags eine Persönlichkeit, ein Objekt in einem Museum, eine Pflanze oder auch einen etwas unbekannteren Ort vorstellen.”
Gesagt, getan.
Den Auftakt machte ein Beitrag von Claudia Panetta-Möller, den die mittendrin dokumentierte.
Barbara BlocksText zum 65. Gebutsttag der documenta ist bereits der neunte in der Reihe. Diesen veröffentlicht die mittendrin in Korrespondenz zu seinem Erscheinen. Text 2 und 3 folgen zu einem anderen Zeitpunkt.
Kontakt/Info:
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