Bauen für Frauen
„Feministische Architektur“ ist ein loses Konzept, das auf die wechselnden Bedürfnisse von Frauen an ihre gebaute Umwelt eingeht. Über eine Definition streiten sich Angehörige der Planungsdisziplinen bis heute.
Architektinnen planen nicht per se feministische Architektur, nur weil sie Frauen sind. Jedoch gibt ihre Erziehung und Stellung in der Gesellschaft ihnen oftmals einen anderen Blick auf den gebauten Raum als ihren männlichen Zeitgenossen. So schrieb Susi Reich, eine Architekturstudentin, bereits 1932: „Da die Architektur die Aufgabe hat, auch den Frauen zu dienen, so scheint mir gerade die Verschiedenheit zu den männlichen Kollegen aussichtsreich“. Nur ein Jahr später ergriffen die Nationalsozialisten die Macht, wodurch die bis dahin hart erkämpften Fortschritte in der Geschlechtergleichheit, die sich auch in der Architektur und Planung abzeichneten, einen schweren Rückschlag erlitten.
Wohnraum für die berufstätige Frau
Einen echten Anfangspunkt für feministische Architektur gibt es nicht. Erste bedeutende Entwicklungen vollzogen sich in Deutschland jedoch während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Der städtische Massenwohnungsbau dieser Zeit richtete sich vorrangig an die isolierte Kleinfamilie. Mit den grundlegenden Veränderungen im Verständnis von Leben, Arbeiten und Gesellschaft – darunter die Rolle der berufstätigen, nun oft im Angestelltenverhältnis arbeitenden Frau –, kristallisierte sich jedoch gleichzeitig eine neue Zielgruppe heraus, für die Wohnraum geschaffen werden musste: ledige, erwerbstätige Frauen. Für sie entstanden die ersten Wohnprojekte für Frauen, die oft emanzipatorischen Charakter zeigten. Das prominenteste Beispiel ist das um die Jahrhundertwende von Lily Braun, einer Sozialdemokratin, eingeführte Konzept des Einküchenhauses. In Mehrparteienhäusern ersetzte darin eine zentral bewirtschaftete Großküche die Küchen der einzelnen Wohnungen. Diese wurde von einer bezahlten Wirtschafterin und Küchenhilfen betrieben, sodass den arbeitenden Frauen die Hausarbeit erspart blieb. Erste Prototype entstanden in Kopenhagen, Stockholm und Berlin und wurden im Laufe der folgenden Jahre in ganz Europa realisiert. Die Einküchenhäuser Friedenau in der Wilhelmshöher Straße, Berlin, stehen heute sogar unter Denkmalschutz.
Zeit sparen im Haushalt
Zur Zeit der Weimarer Republik erlebten neue, sozialistisch ausgerichtete Lebensformen einen Aufschwung. Unter dem Schlagwort „Neues Bauen“ widmeten sich Architekt:innen und Planer:innen der Qualitätsverbesserung von Wohnungsgrundrissen. In der Veröffentlichung „Auf Frauen bauen“ aus dem Jahr 1999 blickt Architektin Ulla Schreiber zurück auf das Neue Bauen: „Grundlage der Entwurfsphilosophie war, eine Gleichstellung der Frau durch ökonomische Unabhängigkeit zu bewirken.“ Architektinnen wie Lilli Reich und Margarete Schütte-Lihotzky gehörten dieser Bewegung an. Noch heute ist Schütte-Lihotzky für ihren Entwurf der „Frankfurter Küche“, die Vorgängerin einer jeden Einbauküche, bekannt, da diese maßgeblich zur Organisation und Rationalisierung der häuslichen Handarbeit beitrug. Den Namen erhielt die Küche, da sie über 10.000 Mal im Wohnungsbauprogramm „Neues Frankfurt“ verbaut wurde, das von Ernst May, dem damaligen Stadtbaurat und einem wichtigen Vertreter des Neuen Bauens, initiiert wurde. May, ihr Vorgesetzter, hatte Schütte-Lihotzky mit der Entwicklung einer Küche beauftragt, obwohl sie keine Erfahrung mit Hausarbeit hatte. Es ärgerte Schütte-Lihotzky, dass ihre Arbeit als Architektin, Stadtplanerin, feministische Aktivistin und Widerstandskämpferin auf die Frankfurter Küche reduziert wurde. In einem Interview 1997 sagte sie: „Wenn ich gewusst hätte, dass alle immer nur davon reden, hätte ich diese verdammte Küche nie gebaut!“
Die Definition diskutieren
Unter Feministinnen der zweiten Generation wurde feministische Architektur kontrovers diskutiert. Eine einheitliche Definition hätte es jedoch nicht gegeben, schreibt Christiane Erlemann, Stadtplanerin und Feministin, in ihrem Text „Was ist feministische Architektur?“ im Jahr 1981. Sie bezeichnet vergangene Konzepte wie ökologisches Bauen, Neues Bauen, Genossenschaftsbauten und sozialistische Architektur als „frauenfreundlich“, jedoch nicht feministisch. Ein Ansatzpunkt für feministische Architektur sei dort, wo Frauen sich selbst Raum geschaffen haben, fährt Erlemann fort, und zählt zahlreiche Orte wie Frauenzentren, Frauenwohngemeinschaften und Frauenferienhäuser auf. Um feministische Räume zu schaffen, bedürfe es anpassbarer Grundrisse, individueller Lösungen sowie der Partizipation aller Beteiligten.
Inklusive Architektur schaffen
Bis heute gibt es keine feste Definition oder gar einen Maßnahmenkatalog darüber, was feministische Architektur ist oder beinhalten sollte. Das Forschungsprojekt „Emanzipative Wohnkonzepte“ unter Prof. Dr. Ruth Becker, Raumplanungsprofessorin an der TU Dortmund, führt seit 1998 eine Internetdatenbank über Frauenwohnprojekte in ganz Deutschland. Die Forschenden schlagen auf der Website Maßnahmen für eine inklusive Architektur vor. Dazu gehören Grundrisse, die eine flexible Nutzung der Räume ermöglichen, die Ausbildung kommunikativer Flächen wie Gemeinschaftsräume und Laubengänge und das Schaffen eines sicheren Wohnumfelds durch Barrierefreiheit, eine ökologische Bauweise und Verkehrsentschleunigung. Die Frage nach der Schaffung feministischer Räume ist auch eine wohnpolitische Frage. So bleibt Frauen mit Mehrfachbenachteiligung – arm, alleinerziehend, behindert, migrantisch – oft die Teilhabe am Wohnungsmarkt erschwert oder gar verwehrt. Sabina Riss, Architekturwissenschaftlerin und Gender-Expertin, verbindet diese Erkenntnis 2019 mit einem Aufruf an Akteure des kommunalen und öffentlich geförderten Mietwohnungsbaus, dass ihnen in diesen Punkten eine Schlüsselaufgabe zukommt, um ausreichend und leistbaren Wohnraum für unterschiedliche Haushaltsgrößen und Lebenssituationen anzubieten und somit soziale Sicherheit zu gewährleisten.
Ein immerwährendes Thema
Feministische Architektur und Planung besteht bislang darin, dass sie Kritik am vorherrschenden Wohnungs- und Städtebau übt und Kriterien zur Berücksichtigung der Interessen von Frauen formuliert. Städte, Quartiere und Wohnungen umgeben uns ständig, weshalb es kaum verwundert, dass die Ansprüche, die Frauen an ihre Lebensräume stellen, mit ihrer fortschreitenden Emanzipation sich ebenso veränderten. Das heutige Verständnis von Feminismus ist transdisziplinär und intersektional, also mit Bedacht auf mögliche Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten von Diskriminierung. Auch feministische Architektur muss in diesem Kontext als komplexes Zusammenspiel vieler Bausteine verstanden werden. Dazu gehören, über das eigentliche Bauen hinaus, die soziale Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder, Gemeinschaft und Kommunikation, ökologische Bauweisen und eine gerechte und inklusive Stadtplanung.
03.07.2023
Text:
Marlena Multhaupt
Illustration:
Maria Bisalieva
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 116, Juni/Juli 2023
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