Die documenta 15 als Zäsur
und die Ereignisse des 7. Oktober 2023
Meinung von Prof. Dr. Andreas Hoffmann, Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH.
Die documenta 15 markiert eine Zäsur. Wie in einem Brennglas nahm sie die Polarisierung nach dem 7. Oktober 2023 in Bezug auf das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus, sowie auf die Frage, welche Rolle eine europäisch orientierte Moderne in einer Weltgesellschaft spielt, die nicht mehr allein von Europa aus zu begreifen ist, um Antisemitismus, Kunstfreiheit und Rassismus vorweg. Der Rücktritt der Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta 16 muss unter dem unmittelbaren Eindruck der barbarischen Terrorakte der Hamas und der Geschehnisse seit dem 7. Oktober 2023 betrachtet werden. In einer schwierigen weltpolitischen Situation geriet die Findungskommission immer stärker unter Druck und hat sich schließlich entschieden, den Findungsprozess nicht fortzusetzen.
Vertrauen zurückgewinnen
Die documenta steht nicht allein: Absagen von Ausstellungen, Preisverleihungen und Forschungsprofessuren dominieren aktuell die Debatte wie auch die Kampagne „Strike Germany!“ Es ist still geworden um Nathan Sznaiders Theorie der Ambiguitätstoleranz. Kann die documenta noch ein Gesprächsraum bieten, gerade jetzt? Wir müssen die Kunstfreiheit sicherstellen und gleichzeitig klar machen, dass die documenta in einem Land mit einer Geschichte stattfindet – in dem Land, das die Shoah erfunden hat. Die Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit müssen unbedingt geschützt sein. Klar muss aber auch sein, dass ihre Grenzen da verlaufen, wo sie Artikel 1 des Grundgesetzes berühren: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Hierzu macht die Organisationentwicklung Vorschläge.
Findungsprozess neu starten
Die documenta wird den Findungsprozess der documenta 16 neu aufsetzen, wenn die Organisationsuntersuchung umgesetzt ist. Eine hochkarätige internationale Findungskommission schlägt die Künstlerische Leitung vor. Dieses weltweit einmalige, komplexe Verfahren soll sicherstellen, dass stets das beste Konzept für Kassel den Zuschlag erhält, das ein ums andere Mal alles neu denken lässt und provoziert. Die documenta muss mutig bleiben.
Strukturen verbessern
Die documenta lässt sich nicht wie eine Behörde führen. Alle fünf Jahre ist sie eines der größten Kunst- und Kulturprojekte der Welt. Aber die Ansprüche an ein solches Mammutprojekt sind gestiegen. Die documenta ist auf eine funktionierende Aufbauorganisation, Ablauforganisation und Governance angewiesen. Nur so kann sie ihre Flexibilität anwenden und der Künstlerischen Leitung ermöglichen, ihr Konzept so umfassend wie möglich umzusetzen, was die DNA der documenta ausmacht. Die insgesamt 22 Empfehlungen der Organisationsuntersuchung zielen darauf, Bedarfe zu eruieren, klare Verantwortlichkeit herzustellen und ein sinnvolles Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Menschenwürde und der Künstlerischen Freiheit aufzuzeigen.
Zwei Codes of Conduct: Willensbekundung auf Augenhöhe
Zur zentralen Frage, wie man den Schutz der Kunstfreiheit verbindet mit der Kontrolle darüber, dass es ein solcher Antisemitismus-Skandal sich nicht wiederholt, schlägt Metrum vor, zwei Codes of Conduct zu erstellen: Einen der gGmbH, der in einem partizipativen Prozess gegenwärtig erarbeitet und dem Aufsichtsrat zum Beschluss vorgelegt wird. Dieser Code of Conduct soll Grundwerte beschreiben, an denen sich sämtliches Handeln der gGmbH orientiert. Ein Fokus ist, klarzumachen, dass die gGmbH sich eindeutig gegen Antisemitismus, Rassismus und sonstige Formen der Diskriminierung positioniert und ggf. dagegen eintritt.
Kein Bekenntniszwang – kein Vertragsbestandteil
Ein zweiter Code of Conduct der documenta Ausstellung soll nach der Berufung der Künstlerischen Leitung in einem von ihr zu definierenden Prozess darlegen und beschreiben, wie gewährleistet wird, dass die Ausstellung die Menschenwürde nicht verletzt. Er soll dem Aufsichtsrat zu Kenntnisnahme, und bewusst nicht zur Freigabe, vorgelegt werden. Beide Codes of Conduct sollen als Willensbekundung auf Augenhöhe behandelt werden und dazu verpflichten, sich frühzeitig darüber auszutauschen und eventuelle Differenzen zu identifizieren bzw. potenzielle Konflikte produktiv aufzunehmen. Damit unterscheidet sich das Vorgehen der documenta deutlich von Vorgehensweisen, die als Förderungsvoraussetzung ausgelegt sind, wie z.B. der Vorstoß in Berlin es vorsah.
mittendrin dokumentiert die vom StadtZeit Kassel Magazin angestoßene Debatte zur Zukunft der Weltkunstausstellung.
Meinung von Dr. Wendelin Göbel, Initiator der Petition DOCUMENTA fifteen: Danke! lesen Sie >> hier
Meinung von Dr. Harald Kimpel, Kunstwissenschaftler, Autor und Kurator lesen Sie >> hier
22.03.2024
Dieser Debattenbeitrag erschien am 28.2.2024 erstmals im StadtZeit Kassel Magazin.
ist seit Mai 2023 Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Zu ihr gehören über die documenta-Ausstellung hinaus auch die Kunsthalle Fridericianum, das documenta archiv, die documenta Halle sowie derzeit noch das documenta-Institut.
Die documenta Debatte komplett in der StadtZeit-Ausgabe 119, Frühjahr 2024, ab Seite 56
>> hier zu lesen