
Wie weiter? Nicht weiter!
Das Undenkbare denken
Es gehört zu den Allerweltsweisheiten, dass die Weltkunstausstellung documenta aus Kassel nicht mehr wegzudenken ist. Aber stimmt das wirklich? Ist es nicht vielmehr an der Zeit, einmal das Unsägliche zu denken, das Undenkbare zu sagen?
Was wäre, wenn…? Was wäre, wenn sich nach sieben Jahrzehnten und 15 Versionen bei einem Veranstaltungszyklus, der auf dem Weg von der Weltkunstausstellung zum global ausgerichteten Instrument gesellschaftlicher Krisenbeschreibung seine normative Kraft und Autorität einzubüßen begann, die Einsicht in die Notwendigkeit seiner Beendigung durchsetzen würde? Ist es nicht Zeit für das friedliche Ende dieser Institution, um dem Prozess ihrer schleichenden Korrosion selbstbewusst durch Selbstabschaffung zu begegnen? „documenta“: das ist kein Klebeetikett für irgendeine Eventstruktur, sondern eine historisch gewachsene Idee. Doch die hat sich inzwischen ins Ungefähre einer beliebig füllbaren Worthülse verflüchtigt, deren wechselnde Inhalte des werbewirksamen Markenzeichens bedürfen, um weltweit als relevant wahrgenommen zu werden.
WAS
Wenn es am schönsten ist, soll man bekanntlich aufhören. Diese Gelegenheit hat die documenta verpasst. Das letzte Mal war sicher nicht das schönste, aber auch noch nicht das Stadium, in dem sich die Institution, widerstreitenden außerkünstlerischen Ansprüchen wechselnder gesellschaftlicher Interessenlagen ausgesetzt, endgültig um Autorität, Reputation und Glaubwürdigkeit gebracht hätte. Diese Chance gilt es zu nutzen. Noch ist es nicht zu spät, um der documenta aus einer festgefahrenen Situation, in der sie weder vor (in eine ideologisch unbelastete Zukunft) noch zurück (in die Rolle einer Kunstausstellung) zu können scheint, einen würdigen Abschluss zu bereiten. Konfrontiert mit Forderungen der Politik und eingekauften Richtungsweisungen des Beratungsgewerbes sieht sich die Institution einem Optimierungsfuror ausgesetzt, der all das repräsentiert, was zu miss- und verachten ihre jahrzehntelange Faszination ausgemacht hat. Kontrollinstanzen, Gutwilligkeitsbeteuerungen und moralische Selbstverpflichtungsmechanismen gehörten niemals zur Agenda einer documenta. Verwickelt in eine Misstrauenskultur, die ihrerseits eine vorauseilende Verhinderungskultur gebiert, droht nun der kreative Elan, mit dem sich die Ausstellung jedes Mal als Kunstwerk begriff, zu erlöschen im Dickicht der Gesinnungsprüfungen, Compliance-Regeln und Absicherungsstrategien. Unglücklich die Institution, die Codes of Conduct nötig hat.
Verantwortung für die documenta zu übernehmen könnte daher auch bedeuten, sie nicht in immer neue Versionen zu jagen, sondern zu erkennen, dass die Legende von der permanenten Neuerfindung ihre Überzeugungskraft und der Mythos documenta seinen Verbindlichkeitscharakter eingebüßt haben. Angesichts der gordischen Verknotung aller Optionen zeigt sich die documenta nun ratlos, wohin sie sich neuerfinden soll. Bereits die letzte Version war nicht mehr auf jene Evolution der documenta-Tradition aus, die bislang zu den Überlebensstrategien der Institution gehörte, sondern auf den mutwilligen Ausstieg aus der Tradition, um dem ästhetischen Diskurs die Ästhetik auszutreiben. Wehret den Fortsetzungen! Der Perspektive, als nur noch touristisch motivierter Wiedergänger des internationalen Kunstbetriebs in regelmäßigen Abständen endlos von sich reden zu machen, gilt es zuvorzukommen. Noch ist die Gelegenheit nicht verspielt, stolz und freiwillig mit einem fulminanten Finale von der kulturellen Weltbühne abzutreten. Nicht nur jedem Anfang, sondern auch manchem Ende wohnt ein Zauber inne – und den sollte sich Kassel in der Phase der documenta-Dämmerung nicht entgehen lassen.
WÄRE
Was wäre gewonnen? Die Freiheit von der Selbsterhaltungsdynamik einer Institution, die kontinuierlich Varianten ihrer selbst hervorzubringen genötigt ist. Abgekoppelt vom Mechanismus der ewigen Wiederkehr des Gleichen und doch Anderen, wäre die documenta-Idee befreit von der Last ihrer Geschichte: von der Verpflichtung, an eine glorreiche Vergangenheit anzuknüpfen und sie zugleich zu übersteigen, vom Erwartungsdruck politischer, wirtschaftlicher und feuilletonistischer Begehrlichkeiten und vom vermeintlichen Zwang, beflissen auf tagesaktuelle Forderungen zu reagieren. Ausgebremst wäre der Prozess der sukzessiven Entkunstung wie auch die lokalpatriotischen Pflichtübungen, noch aus Misslungenem Funken der Begeisterung zu schlagen. Auch würden sich Politikerinnen und Politiker nicht mehr in der Zwangslage sehen, ihre Einflüsse geltend machen und gleichzeitig die künstlerische Freiheit beschwören zu müssen (und eigentlich die kuratorische Freiheit zu meinen). Erlöst wäre die documenta vom Schicksal, den strukturellen Imperativen bundesdeutscher Staatsraison Rechnung zu tragen und aus der Not geborene kosmetische Operationen am Institutionskörper zu erleiden.
WENN
Was bliebe? Zunächst die Chance und Verpflichtung der Ausstellungsreihe, sich in einem triumphalen Abgesang unter Besinnung auf ihre Erfolge und Skandale, ihre konstruktiven Krisen und kreativen Provokationen selbst ein Denkmal zu setzen. Sodann die Erinnerung an ein grandioses Kapitel Kasseler Kulturgeschichte: an eine spektakuläre Ereigniskette, die die Stadt so lange ins Zentrum des globalen Kunstgeschehens gerückt hatte, bis dieses nicht mehr auf die Dokumentations-, Ordnungs- und Kanonisierungsleistung angewiesen war. Es bliebe ein über weite Strecken unbeschädigtes Erbe, das vom „Archiv“ bewahrt, mit seinen Verdiensten und Versäumnisse vom „Institut“ erforscht, vom „Zentrum“ vermittelt und in seiner historischen Bedeutung gewürdigt werden könnte. Gewonnen wäre zudem ein Spielraum für den Auftritt einer charismatischen Person (m/w/d), die mit einer überzeugenden Vision zu den Erfordernissen der geistigen Situation der Zeit mit gänzlich neuen Formaten und Inhalten eine andere Institution von ähnlicher Strahlkraft gründen und begründen könnte. Die Ortsschilder allerdings könnten bleiben.
mittendrin dokumentiert die vom StadtZeit Kassel Magazin angestoßene Debatte zur Zukunft der Weltkunstausstellung.
Meinung von Prof. Dr. Andreas Hoffmann, Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH lesen Sie >> hier
Meinung von Dr. Wendelin Göbel, Initiator der Petition DOCUMENTA fifteen: Danke! lesen Sie >> hier
26.03.2024
Hier dokumentiert ist die erweiterte Fassung des erstmals am 28.2.2024 im StadtZeit Kassel Magazin erschienenen Debattenbeitrags.
Dr. Harald Kimpel
Kunstwissenschaftler, arbeitet unter anderem als Autor und Kurator. Ein Schwerpunkt ist die Geschichte der documenta. Für die StadtZeit kümmert er sich in der StadtZeit-Kolumne „EinWurf“ um erfreuliche oder unerfreuliche Begebenheiten im Kulturbereich.
Die documenta Debatte komplett in der StadtZeit-Ausgabe 119, Frühjahr 2024, ab Seite 56
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