Kunst-Kumpels und kollektives Kritzeln
Streetart macht eine Stadt lebendig, öffnet Augen und bringt Menschen zusammen. Das passiert auch in Kassel: Streetart-Künstler wie Ricky Weber verwandeln die Straßen der Stadt in kreative Spielplätze und bescheren uns Ausstellungen im öffentlichen Raum.
Was macht eine Stadt einzigartig? Diese Frage stellt sich vielleicht insbesondere, wenn man sich in einer Einkaufsmeile einer deutschen Innenstadt befindet, die einen an viele andere Innenstädte erinnert, die man schon besuchen durfte oder musste und die in ihrem Erscheinungsbild durch die Filialen der immergleichen weltweiten Handelsunternehmen geprägt sind. Als Antwort auf diese Frage fallen einem dann vielleicht die historischen Bauwerke, interessante Persönlichkeiten oder besondere Kulturorte ein, die den Herzschlag einer Stadt mitbestimmen. In diesem Text soll es um etwas oftmals viel Unscheinbareres gehen, das eine Stadt einzigartig machen kann: Die Streetart!
Die Bezeichnung Streetart als eigene Kunstkategorie etablierte sich zu Anfang der 2000er-Jahre; künstlerische Ausdrücke im öffentlichen Raum, die man der Streetart zuordnen kann, findet man jedoch in so gut wie allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Anders als im oftmals viel präsenteren Graffiti geht es bei der Streetart weniger um das Verbreiten des eigenen Namens als kalligrafischen Schriftzug, denn um das Verbreiten einer inhaltlichen Botschaft durch die eigene Arbeit. Dabei tritt Streetart in vielen Formen auf, klassischerweise als Aufkleber oder Plakat, gesprüht mit einer Schablone oder als freihändig auf die Wand aufgetragenes Bild. Aber auch Installationen oder Videoprojektionen werden zunehmend als Ausdrucksmittel verwendet. Das geschieht in aller Regel unautorisiert und ohne kommerzielle Interessen.
Streetart in Kassel – aktuell und traditionsreich
Warum ist es nun nötig, einen Text über Streetart gerade in Kassel zu schreiben? Das hat zunächst historische Gründe: Wie Axel Thiel und Jürgen Beyer in ihrem 1981 erschienen pionierhaften Buch „Graffiti in Kassel“ zeigten, existierten in Kassel bereits seit Ende der 1970er-Jahre zahlreiche figürliche und illegal angebrachte Arbeiten im öffentlichen Raum, denen man insbesondere aufgrund ihrer Kreativität die Neuartigkeit des Phänomens anmerkte. Auch das bis heute noch sichtbare Skelett, welches der Streetart-Vorreiter Harald Naegeli, der „Sprayer von Zürich“, bereits in den 1970er-Jahren entwickelte und im Zuge einer Ausstellung 1998 ungefragt an die Frontseite des Kasseler Museums für Sepulkralkultur anbrachte, ist ein später Zeuge aus einer Zeit, in der das Malen mit Sprühdose im öffentlichen Raum noch kein so häufig sichtbares Phänomen darstellte. Neben der Vergangenheit ist es vor allem aber die Gegenwart, wegen der es sich lohnt, sich mit Streetart in Kassel auseinanderzusetzen. Bis heute finden sich zahlreiche Personen, Gruppen und Kollektive, die mit freien Arbeiten künstlerische Spuren in Kassels Straßen hinterlassen und zum Stadtspaziergang mit offenen Augen einladen.
Zu einer zentralen Figur aus diesem Personenkreis gehört der Künstler Ricky Weber, welcher bereits ebenfalls seit den frühen 1990er-Jahren mit seinen Arbeiten im öffentlichen Raum präsent ist. Hierbei hat er immer – ob nun gewollt oder ungewollt – auf Formate und Medien zurückgegriffen, die auf überraschende Art gerade nicht den mittlerweile etablierten Ästhetiken und Arbeitsmaterialien der Streetart entsprechen.
Gekritzelte Kunst-Kumpels
Die im Kasseler Stadtbild wohl den meisten bekannten Arbeiten Ricky Webers sind die meterhohen in Schwarz-Weiß gehaltenen
Märchenfiguren aus der Reihe der „Grimmschen Inseln“, in denen die Charaktere der Märchen der Gebrüder Grimm in einer poppig-plakativen Weise als Skulpturen zu verspieltem und sympathischem neuem Leben erweckt wurden.
Diese Figuren sind bis heute an verschiedenen Orten in Kassel zu sehen, beispielsweise findet man den Froschkönig in der Ludwig-Mond-Straße oder ein Motiv zum Märchen „Tischchen deck Dich“ in der Wilhelmshöher Allee an der Ecke zur Baunsbergstraße.
Entgegen dieser dauerhaft im öffentlichen Raum vertretenen Arbeiten verfolgen gerade die neueren Arbeiten von Ricky Weber einen anderen, viel flüchtigeren Ansatz. Eine zentrale Herangehensweise hierbei ist das Kritzeln: In den gekritzelten, also eher schnell entstandenen Zeichnungen und Malereien geht es dabei zunehmend weniger um akkurat dargestellte Figuren, als um charakterstarke und zugleich mystische Charaktere, die einem eigenen Universum zu entspringen scheinen.
Diese Wesen finden insbesondere den Weg in den Stadtraum, wenn sie sich im Rahmen des Projektes PlasTicker in dreidimensionale Skulpturen verwandeln, die aus eigentlich für den Abfall bestimmten Verpackungsmaterialien wie Plastik-Obstbehältern oder Milchtüten entstehen. In bemalter Form werden aus dem Alltagsmüll Figuren, Apparate oder gleich ganze Szenerien, die mit Klebeband im öffentlichen Raum befestigt werden – und dementsprechend in aller Regel auch innerhalb weniger Tage wieder entfernt werden, um mutmaßlich entweder dem tatsächlichen Abfall oder dem Privatbesitz zugeführt zu werden. Der Effekt dieser Verwandlungen ist so stark, dass man mitunter bei dem Betrachten einer gerade entleerten Plastikschale für Cocktailtomaten am Essenstisch unweigerlich auch ohne hier aufgetragene Farbe an einen PlasTicker denken muss.
Gerade diese figürlichen Arbeiten zeigen, welch hohes Identifikationspotenzial in Streetart stecken kann: Man fühlt sich vielleicht selbst wie eine der gezeigten Figuren oder fühlt sich von ihnen abgeschreckt. Streetart kann so zu einem alltäglichen Begleiter oder Spiegel werden und die Bilder oder Figuren zu Kunst-Kumpels, die einen eine Weile durch den Alltag begleiten können. Dieses freundschaftliche Verhältnis wird dadurch bestärkt, dass diese Figuren in aller Regel ohne kommerzielle Interessen und Verweis auf seine Urheber:innen als Geschenk an seine Betrachter:innen kostenfrei im öffentlichen Raum platziert wurden.
Die Kunst der Verbindung
Dass Streetart also auch von der Interaktion lebt, zeigt zudem das ZI Zeicheninstitut, welches Ricky Weber gemeinsam mit Henning Lutze und Bernhard Skopnik betreibt. Das Hauptanliegen ist dabei das gemeinsame Zeichnen im öffentlichen Raum an immer wieder anderen Plätzen, in welches Passant:innen einbezogen werden: Geschichten, die dort erzählt werden, werden in Zeichnungen verwandelt.
Das Bild in seinem öffentlichen Entstehungsprozess dokumentiert das Leben am jeweiligen Platz und das Zeichnen wird zu einem sozialen Prozess. Durch das gemeinsame Zeichnen von vermeintlich ein und derselben Sache zeigt sich, dass alles vom Betrachtungswinkel der eigenen Position abhängt. Und auch, dass Spiel und Spaß ein wichtiger Teil des Kerngeschäftes sind. Streetart wird hier nicht nur im öffentlichen Raum installiert, sondern entsteht auch auf einsehbare Weise dort.
All diese Arbeiten und Ansätze zeigen, wie reichweitenstark und raumgreifend Streetart sein kann: Die Menge aller Akteur:innen, Aktionen und Arbeiten spannt ein Netz durch die gesamte Stadt, das sich stetig verändert. Neue Arbeiten kommen hinzu, andere werden entfernt oder umgehangen. Das zeigt: Streetart erzeugt immer eine dynamische Kunstausstellung im öffentlichen Raum, die entdeckt und immer wieder neuentdeckt werden will. Oder wie Ricky Weber selbst in seiner frühen Sammelbild-Reihe „Electricity Bildwerke“ schrieb: „Alles unter Spannung“ – und damit auch immer in Verbindung.
29.07.2022
Ausstellung und Aktionen im
Sommer mit Ricky Weber/ZI:
erste hilfe / first aid
18.6. – 25.9.2022
Hugenottenhaus
upcycle
24.6. – 31.7.2022
Kunsttempel
Zeichencamp
ChaosComicClubs Karlruhe/Köln + ZI
Zeicheninstitut
10.8. – 28.8.
Stadtraum Kassel/Kunsttempel
rixpix-O-mat, Zeicheninstitut+ Gäste
temporär, Stadtraum Kassel
wash & watch
immer außer Sonntag
Waschsalon Waschtreff FES 85
www.zeicheninstitut.de und
www.suxibu.de
Autor:
Gerrit Retterath ist bekennender Graffiti- und Streetart-Lobbyist. Dabei interessiert ihn besonders, wie Kunst im öffentlichen Raum eine Stadt verändern und mitgestalten kann. Er ist Projektleiter des Nachbarschafts-Kunstprojektes „Hier im Quartier“ am Kulturzentrum Schlachthof und promoviert an der Universität Kassel zu „Praktiken des Teilens“.
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 110, Juni/Juli 2022
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