Stadtentwicklung – eine Herausforderung für Kassel
Eine Serie im StadtZeit Kassel Magazin mit Prof.Dr.-Ing. Uwe Altrock, Teil I
Vorausschauend, im frühzeitigen Dialog mit der Stadtgesellschaft, mit umfassendem Anspruch an eine gesellschaftliche Transformation, die die Leitfragen der Nachhaltigkeit auf der lokalen Ebene ernsthaft diskutiert: Kassels Stadtentwicklung muss sich künftig strategischer aufstellen.
Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich in einem fundamentalen Umbruch – so platt das klingt, so augenfällig erscheint es angesichts der schnellen Folge von Krisennachrichten und der Bedrohlichkeit, die die Folgen des Klimawandels inzwischen angenommen haben. Doch während wir derzeit alle fast nur noch darüber zu sprechen scheinen, wie sich eine ernsthafte Energiekrise im nächsten Winter mit all ihren schlimmen Folgen noch abwehren ließe und wie viele weiterhin unsichere Atomkraftwerke ohne Endlager dafür wohl benötigt werden, verschiebt sich die gesellschaftliche Aufmerksamkeit schon wieder weg davon, dass unsere Lebensweise wesentlich zu einer Zerstörung des Planeten beiträgt. Politik ist also selbst oder gerade in Krisen häufig auf schnelle Reaktionen angelegt. Doch gesellschaftliche Transformationen brauchen einen langen Atem, und sie müssen unabhängig vom parteipolitischen Klein-klein in größeren Zusammenhängen gedacht und umgesetzt werden. Doch das ist leichter gesagt als getan.
Rückfall in projektbezogene Entwicklung
Ähnlich sieht es in den Städten aus: Auf der lokalen Ebene entscheidet sich vieles von dem, wie wir in unsere Zukunft gehen. Doch auch stadtpolitisch reagieren die Verantwortlichen häufig eher auf Entwicklungen als langfristig-strategisch zu denken. Genau dafür wurde Mitte des 20. Jahrhunderts die Stadtentwicklungsplanung eingeführt. Ihre größten Erfolge konnte sie in München feiern, das in der Vorbereitung der Olympische Spiele 1972 seine gesamte städtische Infrastruktur modernisiert, umfangreichen Wohnungsbau angeschoben und die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben hat. Im Ergebnis ist München zu einer der beliebtesten und erfolgreichsten Städte Europas geworden. Welchen Anteil daran wirklich eine erfolgreiche Stadtentwicklungsplanung hatte und welchen andere Faktoren, wird man im Nachhinein nicht so leicht herausbekommen. Anderswo führte die Stadtentwicklungsplanung eher zur Lähmung: Der Versuch, alles bis ins Detail von oben herab planen zu wollen, das mit der Haushaltsplanung der Kommune eng abzustimmen und konsequent Schritt für Schritt umzusetzen, war letztlich weder in der Lage, alle hierfür notwendigen Informationen zu beschaffen noch aufkommende Konflikte angemessen zu bearbeiten oder bei auftretenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten sinnvolle Anpassungen vorzunehmen. Doch der gegen Ende des 20. Jahrhunderts vielerorts folgende Rückfall in eine projektbezogene Entwicklung einzelner Flächen oder gar der Rückzug der Kommune aus der Stadtentwicklung beispielsweise über die Veräußerung von Wohnungsgesellschaften oder Stadtwerke brachte keineswegs durchweg den von einer Entfesselung privater Investitionen erhofften Durchbruch.
Beherzt auf Krisen reagieren
Inzwischen haben die Städte längst erkannt, dass sie ohne kommunale Ressourcen wie Grundstücke, Wohnungen und Infrastruktur kaum in der Lage sind, beherzt auf Krisen zu reagieren und langfristig angelegte Transformationen mit Nachdruck anzugehen. Vor diesem Hintergrund ist eine strategische Ausrichtung der Stadtentwicklung erforderlich, die sich nicht in einer kurzatmigen Reaktion auf Initiativen anderer Akteure und eine Moderation von Konflikten beschränkt, sondern selbst wichtige und vorausschauende Akzente setzt. In einem kooperativen Staat, in dem Zivilgesellschaft und private Unternehmen eine Beteiligung an Entscheidungen über die Entwicklung unserer Städte allenthalben einfordern, kann es aber nicht darum gehen, von oben herab alles im Detail bestimmen zu wollen. Vielmehr muss im Schulterschluss mit vielen anderen Akteuren ein gemeinsamer Weg zur zukunftsfähigen Ausrichtung unserer baulich-räumlich-funktionalen Strukturen gesucht werden. Eine bedeutende Rolle spielen dabei langfristige Leitprojekte, die von der Stadt vorgedacht und beharrlich über eine längere Zeit umgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße auch für Kassel. Die Stadt hat in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Wandel erlebt, im Rahmen dessen sich an vielen Stellen Veränderungen ergeben. Obwohl Kassel wirtschaftlich viel besser „dasteht“ als vielleicht noch vor 20 Jahren, ergeben sich daraus auch neue Flächenbedarfe, aus denen Belastungen und Nutzungskonflikte resultieren. Hinzu kommen die bereits angedeuteten mannigfachen globalen Herausforderungen, denen sich eine mittlere Großstadt stellen muss, allen voran der Umbau zu einer klimagerechten Stadt.
Komplexe Aushandlungsprozesse gestalten
Es gilt, diese nun umfassend anzupacken und dabei unterschiedlichste fachpolitische Ansätze mit der räumlichen Entwicklungsplanung zu verknüpfen. Die Sicherung der Wohnungsversorgung in einer Stadt mit begrenzter Flächenverfügbarkeit, die langfristige Bereitstellung von Flächen für die Wirtschaft, die Weiterentwicklung multifunktionaler Zentren in Zeiten des Online-Handels, die Dekarbonisierung der für das städtische Leben zentralen Bereiche Wärmeversorgung von Gebäuden, Verkehr und Mobilität sowie Industrie und Dienstleistungen, die klimagerechte Anpassung und Aufwertung knapper werdender öffentlicher Freiräume, die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land, das sind nur einige Stichworte, die dabei im Mittelpunkt stehen. In einer zunehmend komplexer werdenden Stadtgesellschaft, in der die Menschen zu Recht die Gestaltung ihres alltäglichen Lebensumfelds mitgestalten wollen, werden die Aushandlungsprozesse dabei immer schwieriger. Vor diesem Hintergrund sind viele wichtige Fragen sehr grundsätzlich im stadtgesellschaftlichen Dialog zu klären, etwa: Wie lassen sich vergleichsweise dichte Quartiere – möglichst auf wiedergenutzten innerstädtischen Flächen – so entwickeln, dass der von ihnen ausgehende Verkehr für die Umgebung verträglich bleibt? Wie lassen sie sich so gestalten, dass das sich in ihnen entfaltende städtische Leben für viele Menschen attraktiver als ein Leben im Einfamilienhaus am Stadtrand wird? Wie lässt sich das mit in der Nähe liegendem Einkaufen, Arbeiten, Kultur, Bildung und anderen Nutzungen so anreichern, dass man möglichst viel – am besten alles – ohne Auto erledigen kann? Wo lassen sich überhaupt noch Wohnungen verträglich bauen, und wie schafft man es, dass sich auch weniger wohlhabende Haushalte diese leisten können? Wie bindet man neue und bestehende Siedlungen sinnvoll in quartiersbezogene Energieversorgungssysteme ein, die mit regenerativen Quellen betrieben werden? Wo bringt man die dafür erforderlichen Infrastrukturen unter? Wie macht man nicht motorisierten Verkehr auch über das unmittelbare Wohnumfeld hinaus noch attraktiver, so dass mehr Menschen vom Auto „umsteigen“?
Ressourcen genügsamer organisieren und effizient nutzen
Die Stadt Kassel hat sich hier inzwischen an vielen Stellen auf den Weg gemacht. Dass die einst eher stagnierende Stadt nicht auf die vielfältigen Herausforderungen vorbereitet war, hat jedoch dazu geführt, dass manche Entwicklungen eher zögerlich angegangen wurden. Auch wenn die Mieten nach wie vor weit unter denen in Südhessen liegen, hat ihre Entwicklung viele Haushalte an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht, und die durch die Energiekrise explodierenden Nebenkosten kommen noch hinzu. Lange überließ die Kommune die Reaktion darauf eher den Wohnungsunternehmen. Die Förderung des Radverkehrs kam erst stärker in Gang, als sich mit dem Radentscheid die Stadtgesellschaft lautstark zu Wort meldete. Weitreichende Überlegungen zur flächensparenden Nutzungsintensivierung innerstädtischer Gewerbeflächen sind eigentlich erst richtig auf den Weg gebracht worden, nachdem die umstrittene Neuausweisung des „Langen Felds“ bereits unumkehrbar war. Weil alle diese komplexen Themen eine lange Vorbereitung brauchen, muss die Stadtentwicklung in Kassel künftig strategischer aufgestellt werden: vorausschauend, im frühzeitigen Dialog mit der Stadtgesellschaft, mit umfassendem Anspruch an eine gesellschaftliche Transformation, die die Leitfragen der Nachhaltigkeit auf der lokalen Ebene ernsthaft diskutiert: Kann unser Leben genügsamer organisiert werden? Wie gelingt uns ein Umstieg auf Ressourcen und Technologien, die unsere Umwelt nicht beeinträchtigen oder gar zerstören? Wie nutzen wir unsere verfügbaren Ressourcen so effizient wie möglich? Eine zukunftsfähige Stadtentwicklung wird auf diese Fragen angemessene und zeitgemäße Antworten finden müssen.
22.11.2022
Text: Prof. Dr.-Ing. Uwe Altrock
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 112, Okt/Nov 2022
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Stadtentwicklung in und für Kassel – eine Serie
Prof. Dr.-Ing. Uwe Altrock, Fachgebiet Stadterneuerung und Planungstheorie am Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel, blickt in dieser Serie aus fachlicher Perspektive auf Kassels Stadtentwicklung und vermittelt der Stadtgesellschaft Impulse zum Nachdenken und Diskutieren.