Tanz kann Grenzen überschreiten!
Die Stadt zu einem Zentrum des Zeitgenössischen Tanzes zu machen ist das Ziel, das Thorsten Teubl mit seiner Company und der freien Szene erreichen will.
StadtZeit-Gespräch mit Thorsten Teubl, TANZ_KASSEL, Staatstheater Kassel.
Herr Teubl, Ihr Herz schlägt für den Zeitgenössischen Tanz. Was kann – ja, was muss – Zeitgenössischer Tanz aus Ihrer Perspektive heute leisten?
Wie eine große Reise durch die Welt des Tanzes betrachte ich die aktuelle Spielzeit – eine Reise, auf wir viele Menschen und vor allem auch die Menschen in Kassel mitnehmen möchten, den Tanz in seiner ganzen Vielfalt und Diversität zu erleben und letztendlich auch Sichtweisen auf Zeitgenössischen Tanz zu erlernen oder überhaupt zu ermöglichen.
In dieser Spielzeit beschäftigen wir uns mit Begriffen wie „Gender“, „Identität“, „Body Images“ sowie auch mit großen Klassikern, beispielsweise Schwanensee.
… ein Stück, das in den letzten Jahren in Verruf geraten ist.
Es gibt Studien an der Opéra National de Paris, die sagen, das Stück sei rassistisch und diskriminierend. Was es im Grunde auch tatsächlich ist, aber nur durch die Aufführungspraxis und seine Rezeption. Beispielsweise in den sogenannten „weißen Akten“ wurden People of Colour, also dunkelhäutige Tänzerinnen und Tänzer, gezwungen, sich weiß zu schminken, um eine Gleichheit, eine weiße Linie zu erreichen.
Die Empfehlung aus Paris ist es, diese Stücke nicht mehr aufzuführen.
Das Gegenteil muss passieren: Man muss sie aufführen! Gleichzeitig muss man sie aber kommentieren und sie in das 21. Jahrhundert überführen. Genau das haben wir hier in Kassel mit der Eröffnungspremiere von Schwanensee auch getan.
Sie schöpfen auch mit einer solchen Aufführung die Möglichkeiten des Zeitgenössischen Tanzes aus?
Definitiv. Gerade, weil er im positiven Sinne eine permanente Grenzüberschreitung darstellt, ist Zeitgenössischer Tanz für mich so etwas Wunderbares. Diese Mischung der unterschiedlichsten Kunstformen – Schauspiel, Tanz, und dort eben unterschiedliche Bewegungsformen, Musiktheater, Performance …
… was alles sehr viele Anknüpfungspunkte für Zuschauerinnen und Zuschauer bietet?
Was auf der Bühne passiert, müssen Sie erst einmal nicht verstehen. Sie können es assoziativ ganz frei auf sich wirken lassen.
Und dann?
Ich verspreche Ihnen: Was Sie sehen, das macht etwas mit Ihnen. Sie werden aus sich selbst heraus eine Antwort haben, was das ist. Und zwar aufgrund Ihres eigenen biografischen Archivs des Körpers. Tanz, vor allem Zeitgenössischer Tanz, kann Grenzen überschreiten – eine non-verbale Kraft. Mit dieser Form des Tanzes können wir sehr unterschiedliche Zielgruppen erreichen. Der Zeitgenössische Tanz war immer auch Impulsgeber, Ideengeber für alle anderen Kunstformen. All das, was sich im Schauspiel und der Oper irgendwann entwickelt hat, war zuerst im Zeitgenössischen Tanz vorhanden. Das ist etwas Wunderbares – eine große Kraft.
Mit welchem Ensemble bringt TANZ_KASSEL diese große Kraft auf die Bühne?
Wir haben ein deutlich internationales Ensemble, ein ‚Biotop’ an Diversität. Tänzerinnen und Tänzer aus fünfzehn Nationen bilden unser festes Ensemble, und darüber hinaus haben wir hier in Kassel etwas sehr Besonderes: eine Art von „Education Company“, in der Studierende zu uns kommen, um hier zu lernen und TANZ_KASSEL zu unterstützen. Es macht unglaublich viel Freude, mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten.
Haben Sie für sich ein Ziel vor Augen, wo Sie mit TANZ_KASSEL hinwollen?
Das Ziel ist, Kassel zu einem Zentrum des Zeitgenössischen Tanzes zu machen. Wir haben mit der Company ein wunderbares Team, das wir dafür brauchen, wir haben die Möglichkeiten, das gestalten zu können, wir haben ein spannendes Theater und Kassel ist ein unglaublicher Ort. Nicht nur für zeitgenössische Kunst, sondern auch ein wunderbarer Ort, um hier zu leben und zu gestalten. Zusammen mit Kassel, also auch mit der einzigartigen freien Tanzszene, die für mich der Inbegriff von Diversität, Inklusion und Teilhabe ist und die ich sehr schätze, kann hier etwas Großes für den Zeitgenössischen Tanz entstehen.
Thorsten Teubl ist Tanzdirektor von TANZ_KASSEL, der neuen Zeitgenössischen Tanzcompany des Staatstheaters Kassel.
Foto: Marina Sturm.
Auch in der StadtZeit 107, Dezember/Januar-Ausgabe zu lesen >> hier