Tanzhaus temporär N°2
“What do we need the others for”
Performance Projekt tanz*werk kassel e.V. unter der Leitung von Antje Pfundtner.
Vom 24.11.- 26.11. fand das 2. Tanzhaus temporär des tanz*werk kassel statt. Tanzhaus temporär ist ein vom tanz*werk kassel ausgerichtetes 3 jähriges Veranstaltungsprogramm, das gefördert wird durch TANZPAKT Stadt Land Bund, Kulturamt Stadt Kassel, Hessischem Ministerium für Wissenschaft und Kunst und verschiedenen Stiftungen.Die Reihe Tanzhaus temporär möchte den zeitgenössischen Tanz der freien Kassler Tanzszene in der Stadt sichtbarer machen. Langfristig soll aus dem temporären Tanzhaus ein stationäres Tanzhaus mit Bühne und Probenräumen in Kassel entstehen.
„Sie sagt, sie braucht einen Raum.
Sie sagt, sie ist auf der Suche nach einem Raum. Sie sagt, sie ist müde auf der Suche zu sein.
Sie sagt, sie will endlich ankommen.
Einen Raum, den sie teilen kann.
Einen Raum, den sie füllen kann.
Einen Raum, der Platz schafft.
Einen Raum, in dem du mit ihr sein kannst.“
Unter der künstlerischen Leitung von Antje Pfundtner begaben sich 11 Tänzerinnen des tanz*werk kassel in einen 2-wöchigen Probenprozeß in einem leerstehenden Ladenlokal in Kassel. Nach einem Kick off Workshop Anfang November kristallisierte sich die Frage: ‚What do we need the others for?‘ als Thema für die Arbeit heraus. Inspiriert von der Architektur des Ladens – eine auf 3 Raumebenen aufgeteilte Fläche – entwickelten die Tänzerinnen Bewegungsmaterial und performative Sequenzen.Die Frage „What do we need the others for“ birgt sowohl die rein physische Ebene des Anlehnens, des Miteinander-Tanzens, des in-Beziehung-tretens, als auch die gesellschaftliche des Miteinander-Verflochten-seins, des Gebens-und-Nehmens etc. Antje Pfundtner als künstlerische Leitung stellte Aufgaben, veränderte Bewegungsmaterial, schaffte Über- gänge zwischen den einzelnen Sequenzen, entwickelte performative Elemente und schaffte so eine kollaborative Verbindung zwischen ihrer eigenen Arbeit(-sweise) und dem von den Tänzerinnen eingebrachten Performance- fähigkeiten und Bewegungsmaterial.
Der Raum forderte einen bewußten Umgang mit dem Publikum. Jenseits der her- kömmlichen und gewohnten Guckkastensichtweise der Zuschauenden sollten diese in das Geschehen der Site Specific Performance einbezogen werden.
Daraus ergab sich neben der Frage ‚What do we need the others for?‘ eine wiederkehrende räumliche Struktur. 40 Stühle wurden im Raum verteilt, so daß den Zuschauenden ein Perspektivwechsel ermöglicht wurde.
Performance
Die Premiere des Tanzhaus temporär N°2 am 24.11.2022 war mit vollem Haus sehr erfolgreich. Die an das Publikum ausgegebenen Stühle waren bis auf den letzten Platz besetzt und die Zuschauenden genossen interessiert und oft amüsiert die energiege- ladene Performance. Am Eingang des Ladenlokals wurden die Besucher:innen abgeholt. Performativ wurde ihnen eine kurze „Einführung“ in internationalem Englisch über das Geschehen gegeben und assoziativ ins Deutsche übersetzt: ‚We warmly welcome you‘ wurde so zu ‚Sie sagt, daß ihr kalt ist‘. Erwähnt wurde auch der Grund der Performancereihe Tanzhaus temporär:’In Zukunft soll es ein Tanzhaus geben mit Bühne und 2-3 Proberäumen.‘ Das tanz*werk kassel möchte dafür den Weg ebnen.
Das Publikum begab sich auf einen schmalen Grad zwischen Performance und Privatheit. Die Irritation „was ist performt, was privat?“ stellt die gewohnten Konventionen und Betrachtungsweisen von Tanz/Theater/Performance in Frage. Mit Humor, tänzerischen Zitaten und subtilen kulturpolitischen Anspielungen begaben sich die Tänzerinnen auf eine dynamische Performancereise.
Die Zuschauenden wurden einige Male gebeten mit ihrem Stuhl den Platz zu wechseln um eine andere Perspektive im und auf den Raum einzunehmen. Jede Person sah so ihre individuelle Performance.
Solo- und Duomomente wechselten mit Gruppenformationen ab. Die Zuschauenden bildeten die Landschaft in der sich die Tanzperformerinnen bewegten. Durch Blicke und Ansprache wurden sie immer wieder direkt oder indirekt in das Geschehen einbezogen.
Die Frage ‚What do we need the others for‘ läßt sich auf verschiedenen Ebenen betrachten: gesellschaftlich, persönlich, tänzerisch, politisch, …… .
Die ANDEREN geben die Möglichkeit, meinen Standpunkt zu entwickeln, mir Unterstützung zu geben, andere Sichtweisen zu erfahren, meine Perspektive zu wechseln, zu sehen und gesehen zu werden, … .
Im letzten Teil der Performance wurde dem Publikum eine individuelle Performance einer jeden Tänzerin und ein exklusiver Tanz geschenkt. Von Sinneserlebnissen über persönlichen Geschichten, Wiener Gesang bis hin zu blind gezeichneten Portraits wurden die Zuschauenden noch einmal Teil des Performativen. Am Ende erzeugte die Anordnung der Stühle – zwei sich gegenüberstehende Reihen – eine sehr intime und emotionale Stimmung. Puccini’s Non mi lasciare tönt kaum hörbar von ferne, Blicke trafen sich mit der Gewissheit, Teil des Abends gewesen zu sein. Spürbar war ein Gefühl von Verbundenheit und Zugewandtheit. Nach dem Verklingen des letzten Tones lauschten alle für eine Weile der Stille, ließen die Performance in der Erinnerung Revue passieren. Dann der Applaus, den die Performerinnen nutzten, um das Publikum mit Wein und Snacks zu bewirten. Noch immer auf dem Grad zwischen Performance und Privatheit. Die anschließenden ungezwungenen Gespräche zwischen Performerinnen und Publikum spiegelten großes Interesse, Zuspruch und Anerkennung wieder.
Nach den Erfolgen des Tanzhaus temporär N°1 + N°2 kann das Publikum gespannt sein auf des Tanzhaus temporär N°3, das in einem anderen Format vom 17.02.-19.02.2023 im Dock 4 stattfinden wird.
Weitere Infomationen: www.tanzwerk-kassel.org
Autorin: Bettina Helmrich, freiberufliche Tänzerin und Choreographin, Mitglied von tanz*werk kassel
Photos: Karl-Heinz Mierke