Vom Penone-Baum lernen
Eine Kolumne von Doris Gutermuth
Kunst im Kontext – oder: Was die Skulptur ans Licht bringt.
Kunst zu kontextualisieren war initiales Anliegen von Carolyn Christov-Bakargiev (CCB), ihre dOCUMENTA 13 war konsequent davon durchdrungen. Sie lud Künstler:innen nach Kassel ein, die Geschichte der Stadt und die Geschichte der documenta im Bezugsrahmen von Zusammenbruch und Neubeginn auf sich wirken zu lassen. Ihr Plan, der Ort und seine Geschichte möge die Eingeladenen zu neuen, zu d13-Kunstwerken inspirieren, ging auf. CCB ermöglichte Freiräume für die Kunst, und die Kunst war so frei, sich zu entfalten.
Baum und Stein
Die Entscheidung, mit dem Arte Povera-Künstler Giuseppe Penone das erste d13-Kunstwerk „Idee di Pietra“ – zu deutsch: Ansichten eines Steins – schon zwei Jahre vor Eröffnung der Weltkunstschau in die Karlsaue zu platzieren, ließ erahnen, wie entschieden CCB das Konzept der Kontextualisierung umsetzen würde. Die ursprüngliche Eigenheit der Arte Povera, mit dem zu arbeiten, was man vorfindet, befand sich im inspirierenden Austausch mit dem, was der Ort und seine unmittelbare Umgebung in historischer und zeitgenössischer Dimension hergaben. Die „Anpflanzung“ der mehr als acht Meter hohen Baumskulptur aus Bronze, in deren gekapptem Geäst ein drei Tonnen schwerer Findling einen spektakulären Platz gefunden hat, wurde zum medialen Ereignis. Die Karlsaue verzeichnete in ihrem großen Baumbestand einen prominenten Neuzugang, und die Kasseler Bevölkerung, durch Joseph Beuys’ „7000 Eichen“ mit Stein-am-Baum-Skulpturen bestens vertraut, nannte das Kunstwerk fortan „Penone-Baum“. Wichtig anzumerken, dass die kleine, Wachstum und Leben symbolisierende Stechpalme, die Penone neben seine Skulptur pflanzen ließ, keinen dauerhaften Lebensraum vorfand.
Baum und Klima
Giuseppe Penone erschuf im Kontext von Zusammenbruch und Neubeginn ein bleibendes documenta-Außenkunstwerk, dessen Aussage und Wirkung sich im Wandel der Zeiten neu entdecken und deuten lässt. Der Klimawandel rückt die Bedeutung intakter Baumkronen ins Blickfeld und verbietet das Fällen von Bäumen für die Verbreiterung von Straßen oder Schaffung von Parkplätzen. Die Thematik „Baum und Beton“ wird zum Daueraufreger. Ein lebendiger Baum würde zweifellos unter der Last solch eines tonnenschweren Brockens zusammenbrechen. Das kahle Geäst des Penone-Baums, aus dem kein sauerstoffspendendes Blattwerk je sprießen wird, wirkt heute wie ein Menetekel. Der wuchtige Findling wird zum Stein des Anstoßes, die Skulptur als Ganzes zum mahnenden Zeichen.
Baum und Mahnmal
Wir verstehen Guiseppe Penone sicher richtig: Seine Bronzeskulptur will – entgegen der Malerei, die alles zudeckt – etwas ans Licht bringen. Lassen wir unseren Blick hinüberschweifen zum nahegelegenen Mahnmal für die Gefallenen und Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Wie mag ein von Gesteinstrümmern getroffener Baum nach einer Bombendetonation aussehen? Die Antwort findet sich auf historischen Fotos der Stadt nach dem Luftangriff der Alliierten am 22. Oktober 1942. Vor rußgeschwärzten, stark beschädigten Gebäuden stehen Baumskelette, die auf verstörende Weise an den Penone-Baum erinnern: verkohlte Aststümpfe ohne Laub, getragen von einem gleichfalls verkohlten Stamm. Der Penone-Baum wirkt über die gegenwärtige Zeit hinaus – er bringt Verborgenes und Zugedecktes ans Licht.
Autorin:
Doris Gutermuth, Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin, studierte Kunst bei Karl Oskar Blase, arbeitet als Psychotherapeutin und Künstlerin in Kassel.
Auch in der Ausgabe 120, Sommer 2024
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