Von der Freiheit im Alltäglichen
Maschinen und Apps erleichtern und verschönern das Leben in vielen Bereichen oder machen es sicherer – ersetzen können und sollten sie es keinesfalls.
Maschinen und Apps erleichtern und verschönern das Leben in vielen Bereichen oder machen es sicherer – ersetzen können und sollten sie es keinesfalls. Achtsamkeit kann uns als Menschen helfen, wieder Kontakt mit dem Leben aufzunehmen, das uns umgibt und dessen Teil wir sind. Eine futuristische Vision zum Thema.
Wir schreiben das Jahr 2054. Die Menschen verlassen ihre Wohnungen kaum noch, da es da draußen zu gefährlich für sie geworden ist. Dennoch führen sie ein „normales“ Leben. Sie gehen zur Arbeit, kaufen ein und amüsieren sich am Abend in Discotheken. Dafür nutzen sie hochentwickelte humanoide Roboter – sogenannte Surrogates (engl. Stellvertreter, Ersatz), oder kurz Surreys –, die sie von zu Hause aus steuern können, indem sie sich mittels einer technischen Vorrichtung – den „Stim-Chairs“ – mit ihnen verbinden. Surrogates verfügen über menschliche Sinne und sind optisch in den meisten Fällen nicht von Menschen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden. Entwickelt wurden sie, um ihre `Operator´ vor den Gefahren der realen Welt zu bewahren. So können die Menschen zwar ihren Roboter durch die Außenwelt bewegen und diese durch die Maschine sinnlich wahrnehmen, doch vor Verletzungen, die ihrem Surrey gegebenenfalls zustoßen, sind sie geschützt. Dann ist zwar der Roboter beschädigt, der Mensch in seinem Stim-Chair bekommt jedoch keinen Kratzer ab. Zudem sind Surrogates sehr ästhetisch gestaltet: jung, attraktiv und sportlich. Durch ihren Einsatz sind seither Gewaltverbrechen und Diskriminierung in der Gesellschaft signifikant gesunken.
Permanent „online“
Die Darstellung des menschlichen Alltags in nicht allzu ferner Zukunft aus dem Action-Film „Surrogates – Mein zweites Ich“ aus dem Jahr 2010 ist nicht so abwegig wie es auf den ersten Blick erscheint. „Leben … nur besser“. „Sei, was immer du sein willst“ – so wird den Menschen in dieser futuristischen Vorstellung ein Leben versprochen, das sie durch den Gebrauch einer Technologie von allem Ungemach befreit und ausschließlich die Vorzüge des menschlichen Daseins genießen lässt.
Auch wir in unserer gegenwärtigen Welt scheinen uns ein perfekteres Dasein zu wünschen. Unsere tatsächliche Umgebung erachten wir dabei kaum mehr unserer Aufmerksamkeit für würdig. Eine Fahrt mit der Straßenbahn – oder jede andere Situation des Wartens in der Öffentlichkeit – verdeutlicht die Assoziation zur Gegenwart. Kaum noch jemand, der sich nicht – über sein Smartphone gebeugt – vom Hier und Jetzt ablenkt. Dabei haben doch die meisten Menschen das Glück von Geburt an mit fünf Sinnen ausgestattet zu sein, mit denen sie ihre Um- und Innenwelt direkt wahrnehmen könnten. Die Perfektion der Filmroboter dagegen hat ihren Preis – das Grundmodell verfügt nur über Hör- und Sehsinn; zusätzliche Sinne kosten entsprechend mehr. Auch ist die „Freiheit“ durch den Gebrauch dieser Maschinen auf einen gefüllten Akku angewiesen – ist dieser leer, müssen die Surreys in die Ladestation und stehen vorübergehend nicht zur Verfügung.
Trennen die Menschen die Verbindung zur Maschine, gehen sie „offline“ und nehmen die Welt um sie herum wieder als sie selbst wahr, als Menschen aus Fleisch und Blut. Im Film ist das jedoch nicht mehr allzu oft der Fall. Die Menschen sind derart an den schönen Schein von Leben gewöhnt, dass sie die Roboter nicht nur am Arbeitsplatz und in der Freizeit verwenden; auch Urlaub ist ohne ihre Surreys kaum denkbar. Selbst in der eigenen Wohnung stehen sich mitunter Ehepaare, die sich kaum noch trauen sie selbst zu sein, als Roboter-Pendant gegenüber. Derart abgeschottet von der Realität und unsichtbar hinter den stets perfekt gestylten Maschinen, sind sie jedoch weder mit der Außenwelt noch mit sich selbst wirklich verbunden.
Auch in der Gegenwart besteht eine ähnliche Abhängigkeit. Viele tragen das Ladekabel ihres Smartphones immer in der Tasche, um nicht mit der Gefahr eines leeren Akkus konfrontiert zu werden – einer Situation, die einen ins „offline“ zwingt und damit zur Beschäftigung mit der realen Umgebung oder gar mit sich selbst.
Gefilterte Wahrnehmung, unterdrückte Gefühle
In der schönen neuen Filmwelt kommt es zu unerwarteten Problemen. Während das FBI in einer spektakulären Mordserie ermittelt, in der Angriffe auf Surrogates auch zum Tod ihrer Operator führen, wird der Surrey des Hauptdarstellers – FBI-Agent Greer – zerstört. Auch er selbst nimmt Schaden und wird im Krankenhaus versorgt, bevor er die Ermittlungen ohne seinen Roboter fortsetzt. Fortan läuft er als Mensch aus Fleisch und Blut durch eine von Robotern bevölkerte Außenwelt. Zunächst ist er überfordert mit der neuen Situation, der ungefilterten Wahrnehmung und der menschlichen Schmerzempfindlichkeit, die angesichts der mangelnden Sensibilität der Maschinen besonders deutlich hervortritt. Seine Kollegin ist entsetzt, dass er ohne Beruhigungsmittel aus dem Krankenhaus in die ungewohnte Realität entlassen wurde und will ihm sofort im nächsten Geschäft einen neuen Surrogate besorgen, damit er sich weiterhin unbeschadet und angstfrei bewegen kann. Greer lehnt dies jedoch ab.
Auch unsere gegenwärtige Welt scheint für viele nur noch im Rausch erträglich zu sein. Alkohol, Drogen, Genussmittel oder eben auch Beruhigungsmittel werden zunehmend und immer bedenkenloser konsumiert, um unsere Empfindungen zu regulieren. In manchen Situationen betäuben wir uns, um schlechte Gefühle nicht fühlen zu müssen und putschen uns dann wieder auf, um überhaupt noch etwas zu spüren. Selbst die – von der Außenwelt abgeschotteten – Menschen im Film konsumieren durch ihre Surreys Drogen in Form von leichten Stromschlägen, um intensivere Empfindungen zu erleben. Dabei steht doch der Zugang zu intensiver Wahrnehmung jedem Menschen offen. Dafür brauchen wir weder teures Equipment noch besondere Fähigkeiten. Jeder ist zur Achtsamkeit fähig und trägt alles bei sich, um jederzeit und an jedem Ort mit der Gegenwart in Kontakt zu treten. Doch diese Fähigkeit ist zunehmend blockiert von den vielen Ablenkungen, die uns im Alltag von einer solchen direkten Verbindung zur Außenwelt sowie zu uns selbst abschneiden.
Bewusst agieren, anstatt automatisch zu reagieren
Achtsamkeit kann uns zu einer intensiveren Wahrnehmung verhelfen. Diese ist jedoch nicht auf angenehme Empfindungen beschränkt. Schönes nehmen wir ebenso intensiv wahr wie Unangenehmes, denn das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Lenken wir uns ab oder „betäuben“ wir uns, um schwierige Empfindungen nicht spüren zu müssen, berauben wir uns auch angenehmer Gefühle. Das Leben wird flacher, weniger lebendig. Dabei nehmen wir oft nur noch „besondere“ Ereignisse wahr, während der scheinbar belanglose Alltag unbeachtet an uns vorbeizieht. Häufig reagieren wir automatisch auf äußere Reize. Bestimmte Handlungsweisen haben wir so verinnerlicht, dass wir sie nicht mehr hinterfragen, auch wenn sie gar nicht gut für uns sind. Doch wir sind keine Maschinen, die einfach nur funktionieren. Achtsamkeit kann uns helfen, einen Moment innezuhalten, unsere Empfindungen wahrzunehmen und dann bewusst zu agieren, anstatt einfach nur automatisch zu reagieren. Somit verschafft uns im Alltag praktizierte Achtsamkeit einen Handlungsspielraum, ein Stück Freiheit.
Die unmittelbare Wahrnehmung der Gegenwart ist jedoch nicht immer einfach. Oft sind wir in Gedanken; wir planen Zukünftiges oder denken über die Vergangenheit nach. Selten sind wir bewusst im Hier und Jetzt. Das ist nichts Ungewöhnliches, denn unser Gehirn ist nun mal zum Denken da.
Aufmerksamkeit für unseren Körper ist angesichts dieser Übermacht an Gedanken und eingefahrenen Automatismen eine große Hilfe. Besonders die Konzentration auf die Atmung ist ein zentrales Element der Achtsamkeitspraxis und auch das Essen der täglichen Mahlzeiten stellt eine gute Möglichkeit dar, um regelmäßig zu üben. Im Prinzip ist es ganz einfach, doch es bedarf kontinuierlicher Praxis sowie Geduld und Freundlichkeit mit sich selbst, um mit Achtsamkeit eine neue Gewohnheit einzuüben und im Alltag zu praktizieren.
Achtsamkeit unter Anleitung einüben
Am besten lässt es sich mit Gleichgesinnten üben. Dazu eignet sich ein Kurs sehr gut. Im Rahmen eines standardisierten MBSR-Kurses (Mindfulness-Based Stress Reduction) nach Jon Kabat-Zinn beispielsweise lernt man in acht Wochen verschiedene Aspekte von Achtsamkeit und Übungen für den Alltag kennen. Unter Anleitung üben die Teilnehmenden Meditation, Yoga, Körperwahrnehmung oder achtsames Essen; sie beschäftigen sich mit stressauslösenden Gedanken sowie den daraus resultierenden Körperempfindungen und tauschen sich über die Erfahrungen mit der eigenen Achtsamkeitspraxis zwischen den Sitzungen aus. Durch diese Bestärkung fällt es leichter dran zu bleiben.
Die Voraussetzungen, Achtsamkeit in seinen Alltag zu integrieren, sind günstig. Jeder besitzt die Fähigkeit dazu und es bedarf keiner aufwändigen Ausrüstung oder Vorbereitung. Man kann überall und jederzeit Achtsamkeit praktizieren. Jede Form von Wartezeit im Alltag bietet sich dafür an. Dennoch ist es nicht leicht und auch nicht immer angenehm. Es braucht Entschiedenheit und vielleicht auch Überwindung angesichts der langjährigen entgegengesetzten Routinen. Der Lohn ist jedoch, dass wir uns lebendiger fühlen, dass wir die vielen einzelnen Augenblicke wahrnehmen, aus denen sich das Leben zusammensetzt, anstatt nur die „besonderen“ Ereignisse im Leben zur Kenntnis zu nehmen. Das Geschenk von Achtsamkeit ist eine bessere Selbstfürsorge sowie die bewusste Wahrnehmung des Lebens, von dem wir ein Teil sind, anstatt davon abgeschnitten zu sein.
Auch die Macher des Films kommen schließlich zu dieser Erkenntnis. Am Ende stellt sich heraus, dass der einstige Erfinder der Robotertechnologie selbst plant, alle Surreys zu vernichten, da er sie als Perversion des menschlichen Daseins erkannte. Im finalen Dialog mit Greer, in dem sich beide als Menschen gegenüberstehen, beschreibt er die unmittelbare Wahrnehmung der Welt, zu der er zurückfinden will und die nichts anderes ist als Achtsamkeit: „Spüren Sie das, Greer? Den schnelleren Puls, die intensivere Wahrnehmung, den Genuss jeden Atemzugs als wäre es der letzte. Das haben Sie vermisst. Jeder Mensch vermisst das.“
Text: Rosemarie Rohde
Illustrationen: Amelie Stute
Quelle dieses Textes:
StadtZeit Kassel Magazin, Nr. 102, Februar/März 2021
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Die Autorin
Rosemarie Rohde ist examinierte Krankenschwester, arbeitet auf einer Intensivstation und studiert Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Sie interessiert sich besonders für sozialpolitische Themen.