Einmal quer durch Europa
Ein Reisebericht
Mit Zug und Bus nach Istanbul? Was absurd klingen mag, eröffnet Reisenden völlig neue Perspektiven auf Länder, Menschen und Natur.
Von Paris über Wien bis nach Istanbul brachte der Orient-Express Reisende in früheren Zeiten. Eine Fahrt quer durch Europa. Und das mit einem Zug. Heute ist eine solche Strecke nur noch bequem mit dem Flugzeug zurückzulegen. Wer nicht fliegen will, hat Pech gehabt – könnte man meinen. Denn es ist möglich – und hat meinen zwei mitreisenden Freunden und mir unglaublich viel Spaß gemacht.
Vor der Reise haben wir unsere Route grob abgesteckt. Die Hinreise sollte über Wien, durch Rumänien und Bulgarien bis nach Istanbul führen. Den Rückweg hatten wir zunächst nur vage abgesteckt. Denn das Wichtigste während der gesamten Reise war für uns die Freiheit, an jedem Tag einfach die Reisepläne ändern zu können. Nach einem Zwischenstopp in Wien startete unser Abenteuer mit der rumänischen Eisenbahn. Der Nachtzug von Wien nach Bukarest benötigt je nach Route etwa stolze 20 Stunden. Wir entschieden uns für zwei Stopps in der ehemals von vielen Deutschen bewohnten Region Transsilvanien. Die Altstädte von Sighișoara, deutsch: Schäßburg, und Brașov, deutsch: Kronstadt, sind ausgesprochen gut erhalten. Die Vergangenheit der deutschsprachigen Minderheit, der sogenannten Siebenbürger Sachsen, ist in den Städten und der Region heute noch erlebbar. Nach zahlreichen Auswanderungswellen sind die Siebenbürger Sachsen zwar heute auf wenige zehntausend geschrumpft, eine deutschsprachige Zeitung gibt es in der Region aber bis heute. Besonders aufgefallen ist uns die Ankündigung einer Urnenbeisetzung an der zentralen Kirche in Brașov. Auf einer Schiefertafel waren mit Kreide der Name des Verstorbenen, der Friedhof und das Datum der Beisetzung in deutscher Sprache angekündigt. Als wir etwas später den Innenhof des Demokratischen Forums der Deutschen betraten und nur noch deutsch um uns herum zu hören war, fühlte es sich an wie ein plötzlicher Grenzübertritt. Was sich jedoch nicht änderte, war die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen, denen wir begegneten. Als Andenken durften wir uns mehrere Ausgaben der deutschsprachigen Zeitung mitnehmen.
Zwischen vollkommener Ruhe und Hektik
Zugfahren in Rumänien ist ein Erlebnis: In Regionalbahnen, die ihre besten Tage schon lange hinter sich haben, fuhren wir mit gefühlt nur 40 Stundenkilometern durch reizvolle Landschaften. Kleine Bauerndörfer, dunkle Wälder und grüne Hügellandschaften zogen abwechselnd am Fenster vorbei. An den verwaisten Bahnhöfen begrüßte uns manchmal nur ein Hund, von denen in Rumänien übrigens sehr viele auf der Straße leben. Wir fühlten uns in der Zeit zurückversetzt.
Zum sonst in weiten Teilen ländlichen Rumänien bietet die Hauptstadt Bukarest einen echten Kontrast. Die vollkommen überdimensioniert wirkenden Prachtstraßen des sozialistischen Diktators Ceausescu dominieren das Stadtzentrum. Dennoch bietet Bukarest einige verwinkelte Straßen, hübsche Villenviertel und kleine Cafés in den ruhigeren Seitenstraßen.
Nach zwei Nächten in Bukarest hatten wir zwei Optionen: Über Nacht mit dem Bus oder Zug nach Istanbul fahren, oder einen Abstecher im Donaudelta einlegen. Wir entschieden uns für einen lohnenden Umweg über das Flussdelta. Allerdings mussten wir für die Anreise aus Bukarest einen ganzen Reisetag einplanen. Die Donau, aufgeteilt in drei Flussarme, mündet im Grenzgebiet von Rumänien und der Ukraine ins Schwarze Meer. Das Delta ist ein riesiges Naturschutzgebiet mit einzigartiger Flora und Fauna. Die meisten Ortschaften sind für Touristen und Anwohner nur per Boot zu erreichen. Das verhindert bisher aber wohl, dass der Massentourismus hier Einzug erhält. Stattdessen konnten wir im 3000-Einwohner-Städtchen Sulina, direkt am Schwarzen Meer gelegen, zwei entspannte Tage verbringen.
Einheimische laden zum Essen ein
Unsere sehr hilfsbereite Gastgeberin im Hostel in Sulina organisierte für uns einen Tagesauflug ins Innere des Deltas. Auf einem kleinen Motorboot führte uns „Captain Nemmo“, so nannte sich der Bootsführer, durch kleine Kanäle, Seerosenteppiche und in noch kleinere und abgelegenere Ortschaften als Sulina. Im Dorf Letea, wo die Straßen aus Sand bestanden, gab es beispielsweise nur einen kleinen Gemischtwarenladen, gefördert von der Europäischen Union. An der Gastfreundschaft der Menschen änderte das offensichtlich einfache Leben aber nichts. Von einer einheimischen Familie in Letea, bei der wir leckeren Fisch essen durften, wurden wir herzlich empfangen. Nach zwei entspannten Tagen im Delta sehnten wir uns nach Istanbul. Auf dem Weg dorthin legten wir einen Zwischenstopp in der Hafen- und Urlaubsstadt Konstanza am Schwarzen Meer ein. Mit dem Nachtbus ging es weiter nach Istanbul. Ein mulmiges Gefühl beschlich uns im Gedanken daran, dass Seismologen ein starkes und möglicherweise verheerendes Erdbeben vor der Küste der 15-Millionen-Einwohner-Metrople Istanbul erwarten.
Eine Stadt auf zwei Kontinenten
Die Stadt am Bosporus zu beschreiben, fällt schwer. Trubel und geschäftiges Treiben an jeder Ecke, fast überall einen Blick auf das Wasser und die leckere türkische Küche. Außerdem bietet Istanbul eine Reihe historisch wichtiger Sehenswürdigkeiten: die Hagia Sophia, die „Blaue Moschee“, den Sultanspalast und viele weitere profane und sakrale Bauten. In drei Tagen konnten wir zwar nicht alle Attraktionen besuchen, aber darum ging es uns auch nicht. Viel schöner war es, in das Leben der türkischen Metropole einzutauchen. Wir ließen uns beim Friseur die Haare schneiden, suchten authentische türkische Restaurants auf und streiften über etliche Basare. Die Preise waren abseits der touristischen Viertel aus unserer Perspektive erschreckend niedrig. Für einen türkischen Tee zahlten wir auf einer öffentlichen Fähre beispielsweise nur umgerechnet etwa 20 Cent. Die meiste Zeit verbrachten wir in Istanbuls europäischem Teil, westlich des Bosporus. Der asiatische Teil bietet zwar weniger bekannte Sehenswürdigkeiten, ist dafür allerdings weniger touristisch überlaufen und mindestens genauso spannend. Besonders gefallen hat es uns dort im geschäftigen Viertel Kadiköy mit seiner gemütlichen Uferpromenade.
Auf dem Rückweg legten wir zuerst Stopps in den beiden größten Städten Bulgariens ein: Sofia und Plovdiv. Uns überzeugte vor allem Plovdiv mit seiner gemütlichen Fußgängerzone und seiner architektonischen Vielfalt. Dicht an dicht stehen dort griechische, römische, traditionelle bulgarische und sozialistische Bauten. Moderne Hochhäuser gibt es in der Innenstadt nicht. Stattdessen scheinen die Stadtverantwortlichen in den letzten Jahren viel Geld in die Sanierung bestehender Gebäude und der Fußgängerzone investiert zu haben. Dem Flair der Stadt kommt diese Entwicklung zugute.
Unseren letzten Aufenthalt hatten wir im rumänischen Timișoara, deutsch Temeswar und eine der Europäischen Kulturhauptstädte 2023. Das historische Stadtbild ist in weiten Teilen intakt, wenn auch abseits des touristischen Zentrums viele Häuser in einem äußerlich schlechten Zustand sind.
Schöne Erinnerungen bleiben
Was von der Reise bleibt, sind eine Menge Erinnerungen an abenteuerliche Zugfahrten, wunderschöne Landschaften, historisch wertvolle Städte und vor allem: an unglaublich zuvorkommende, gastfreundschaftliche Menschen. Während der Reisen mit Zug und Bus begegneten wir vielen Einheimischen. Manche Menschen waren zunächst verwundert, uns Touristen zu begegnen. Trotzdem zeigten sie großes Interesse an unserer Reise und versuchten, mit uns ins Gespräch zu kommen. Eine sprachliche Barriere gab es dabei nur im ersten Augenblick. Viele der Menschen, denen wir in Rumänien, Bulgaren und der Türkei begegneten, sprachen kaum Englisch. Die Kommunikation war trotzdem meistens möglich, sei es mit Hilfe von Übersetzungs-Apps oder „mit Händen und Füßen“. Viele bleibende Eindrücke der Reise hätten wir vermutlich nicht bekommen, hätten wir den Flieger nach Bukarest, Istanbul oder Sofia genommen und vor Ort ein Mietauto gebucht. Stattdessen setzten wir auf die Verkehrsmittel, die auch die Einheimischen nutzen, und würden die Reise so jederzeit wiederholen.
21.12.2023
Text und Bilder:
Eric Seitel
Diesen Artikel auch zu lesen in der StadtZeit-Ausgabe 118, Winter 2023/24
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