Die documenta durch Kunst retten!
Meinung von Lutz Freyer, Künstler und Kurator.
Wie können wir Wörter wählen, die einen kunstnahen Raum schaffen, ein Denken und Fühlen, das Räume öffnet und der Freiheit der Kunst dient? Lutz Freyer führt die StadtZeit-Debatte zur Frage “documenta – wie weiter?” fort.
Raketenstation
In der Nähe Düsseldorfs hat der documenta Künstler Thomas Schütte, der
auch zu unserem Hugenottenhausprojekt gehört, eine ehemalige Raketenstation in eine Kunststation verwandelt: Wunderbar, was Kunst in verwundeten Zeiten bewirken kann.
Hier in Kassel gehen wir, schenkt man den Worten von Dr. Andreas Hoffmann Glauben, den umgekehrten Weg: Die documenta 16 wird eine Raketenstation! Desweiteren müssen wir zurück auf die „Überholspur“, um endlich wieder „in der Champions League“ mitspielen zu können! Worauf weisen diese potenten, kunstfernen Sprachgebilde hin, die der documenta-Geschäftsführer bei der Veranstaltung Gesichter der Kultur in der Orangerie am 6.7.2023 äußerte?
Wann hat die documenta fifteen oder gar schon die documenta 14 die Überholspur verlassen und spielt jetzt etwa nur noch Regionalliga? Übergänge zwischen Wörtern und ihren Wirkungen sind oft nahtlos. Wie können wir Wörter wählen, die einen kunstnahen Raum schaffen, ein Denken und Fühlen, dass Räume öffnet und der Freiheit der Kunst dient? Wie lässt sich Vertrauen schaffen, damit wir auf die Fragen und Krisen die uns und alle Lebewesen betreffen, gemeinsam Antworten und Lösungen finden?
Kunst kann einen Beitrag leisten, wenn mitfühlend, stotternd, zögernd, leuchtend, wimmernd, schreiend, strauchelnd, lachend und weinend auf ihren Tanz und ihren Gesang hin gelauscht wird.
Champions League
Nur wenige schaffen es, in der Champions League einen Platz zu erringen. Wir bewundern Sieger:innen für ihre Höchstleistungen in allen möglichen Sparten. Sollte also auch Kunst die Aufgabe haben, uns aus den Niederungen alltäglichen Lebens emporzuheben?
So lieben wir die höchsten Berge und bewundern sie, kennen und nennen sie bei ihren Namen: Mount Everest, K2, Himalaya, Matterhorn. Das Besteigen der Gipfel ist oft nur unter Lebensgefahr möglich. Bei der Erstbesteigung des Matterhorns am 14. Juli 1865 durch Edward Whimpey, durchtrennte er das verbindende Sicherungsseil, um an den anderen vorbei als Erster ans Ziel zu gelangen. Dieses zerstörte Seil fehlte beim Abstieg und kostete vier Menschen das Leben.
Das indonesische Kollektiv ruangrupa hat schon vor der Eröffnung der Weltkunstausstellung ungewohnt viele Verbindungen geknüpft. Innerhalb der Stadt Kassel haben die Mitglieder Kunst- und Kulturinitiativen besucht, sich befreundet und eingeladen, Teil des documenta Geschehens zu sein. Agus Nur Amal, einer der documenta fifteen Künstler, trat mit seiner Performance an allen möglichen Orten der Stadt auf, so auch in unserer Ausstellung erste hilfe : first aid im Hugenottenhaus. Agus hat sich nach einem traumatisierenden Tsunami in seinem Heimatland die Frage gestellt, wie Kunst erste Hilfe sein kann?
Agus singt und spielt mit bunten Alltagsgegenständen – oft sind es weggeworfene Plastiksachen. In seinem humorvollen Gesang wird Mitgefühl spürbar, das heilt.
Überholspur
„Wir müssen zurück auf die Überholspur“, fordert Dr. Andreas Hoffmann. Wann hat eigentlich die documenta diese flotte Spur verlassen? Hatte vielleicht schon die documenta 14 neben der Überholspur stattgefunden, gar auf dem Standstreifen? Welches Denken bringt so einen Gedanken hervor? Wer durfte überhaupt mitdenken in dieser wichtigen Frage von Kunst?
Auch Künstler:innen?
Gerade auf der letzten documenta, gab es vielfältige Einladungen zum Entschleunigen, allein oder gemeinsam Kunst erleben, fühlen, reden, essen, trinken, rauchen, feiern, still oder gewahr sein. Gehört das alles vielleicht gar nicht zur Kunst im eigentlichen Sinne, kann ein Kunstwerk isoliert betrachtet werden, also außerhalb des Sinnfeldes, in dem es erscheint? Kann man jegliche Kunst betrachten wie einen auf einer Glasplatte ausgestreckten Frosch?
Das Künstlerkollektiv ruangrupa hat diese documenta, wie keine zuvor, in den gesamten Stadtraum ausgedehnt, die vielfältigen Verästelungen gingen wie
Wurzeln eines Baumes, eines Waldes, durch die Erde bis hin zu entlegenen Erdteilen. Einige Mitglieder der Gemeinschaft waren lange vor Öffnung der Ausstellung mit ihren Familien in Kassel, haben sich und ihre Kultur mit eingefädelt, oft waren sie auch Gast bei uns im Hugenottenhaus, wo an der Wand der Satz leuchtet: in art we trust.
Woran glaubt man im Glauben an Überholspuren?
Der Kulturkritiker Ivan Illich, der sich mit den Mythen der modernen Kultur kritisch auseinandergesetzt hat, denkt das Überschallflugzeug Concorde im Zusammenhang mit dem Eselkarren. Für den 2002 verstorbenen österreichisch-US-amerikanischen Autor, Kulturkritiker, Philosophen und Theologen bedingt eines das andere.
Viele Kunstwerke der documenta 14 und der documenta fifteen thematisierten, wie Arm- und Reichsein zusammenhängen. In der Mitte der neuen Galerie lag bei der d14 ein schwarzes Buch, der „code noir“, ein Gesetzbuch, dass die Lebensbedingungen für schwarze Sklaven im französischen Kolonialreich bis 1848 festlegte. Ein Codex in einem Glaskasten. War das Kunst? Dieses kleine Buch repräsentierte menschenverachtenden Kolonialismus und seine dramatischen Folgen bis heute.
Die Übergänge von Kunst und Nichtkunst sind fließend und wie viele Grenzen veränderbar. Die documenta fifteen hat an vielen Stellen den stabil scheinenden Boden unserer Überlegenheitskultur ins Wanken gebracht. Ein Protestbild der Künstlergruppe Taring Padi auf dem Friedrichsplatz thematisierte den Mord an hunderttausenden Oppositionellen durch den Diktator Suharto. Da antisemitische Bildsprache, wie auch in drei weiteren Arbeiten, verwendet wurde, hatte das weitreichende Folgen und überschattet nicht nur die Intention des Bildes sondern die gesamte documenta fifteen bis heute.
Entkunstung
Beim Nachdenken über die documenta fifteen wird von Dr. Harald Kimpel „Ent- kunstung“ festgestellt und das Ende der Weltkunstausstellung documenta gedacht (Stadtzeit März/April/Mai 2024, Ausgabe 119 und >> hier zu lesen).
Von welchem Hochsitz aus konnte man wohl diese unfassbare, in viele Wirklichkeiten der Welt verzweigte documenta fifteen in Gänze überblicken, um so ein vernichtendes Urteil zu fällen? Hat man einzelne Kunstwerke aus dem Ganzen des documenta Geschehens herausgeschnitten, sie kunstwissenschaftlich analysiert, vermessen, gewogen, geprüft und in diesem separierenden Zustand gedacht? War wirklich keine einer Weltkunstausstellung würdige Kunst zu sehen, zu erleben, zu denken?
Joseph Beuys spricht davon, dass es auf den Wärmecharakter im Denken ankäme. Eine Anspielung auf Erkenntnisse aus der Quantenphysik, die herausgearbeitet hat, dass Subjekte und Objekte nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Also, was ich sehe, sieht mich und zeigt mich auch, zeigt mein Menschsein. Wie sehen wir die Menschen in anderen Erdteilen, ihr Sein, ihre Kunst, ihre von unserem obsessiven Lifestyle bewirkte Not: Und wie sehen sie uns?
Im Hotel Hessenland hat die Künstlergruppe MADEYOULOOK aus Südafrika, den großen Bodesaal abgedunkelt und bespielt. Ich saß unbequem, mich als Riese fühlend, auf einem nachgebildeten Holzplattenberg inmitten anderer Menschen, Vogelstimmen tauchten auf, Gezwitscher aus dem Nichts kommend. Leise, lauter werdend mischten sich Menschenstimmen hinein und imaginierten
einen fremden Wald. Plötzlich schrie eine Frau laut auf. Im eigenen Erschrecken und Nachdenken über die Frage, ob gerade etwas passiert sei hier im Raum, merkte ich bald, dass das Schreien zum Kunstwerk gehörte. Wie nahtlos doch
manchmal Kunst in Nichtkunst übergeht.
Der große Bodesaal ist vom kleinen Bodesaal, nur durch eine hauchdünne Wand
getrennt. Hier, in unmittelbarer Nachbarschaft, hat Tino Sehgal zur documenta 13 ebenfalls in abgedunkeltem Raum, eine berührende, wunderbare Arbeit realisiert, die unbeschreiblich Kunst und Nichtkunst in einen nahtlosen Zusammenhang brachte. Das Kunstwerk durfte weder fotografiert noch beschrieben werden, im Katalog der documenta 13 hinterließ es einfach nur eine Lücke.
Tino Sehgal realisiert eine Möglichkeit, Kunst als Geschehen zu erleben, nicht als separates und separierendes Objekt. Das Verständnis dieser Arbeit könnte auch zum Verständnis der documenta fifteen beitragen. Überhaupt könnten wir verstehen, dass Kunst übergangslos in Wirklichkeit hineinspielt, wie auch Wirklichkeit in Kunst. Unsere eigene Bewegung, in der wir doch immer auch selbst bewegt werden, gewinnt im Kunstwerk eine Form: Kunst und Wirklichkeit bleiben miteinander verbunden, selbst wenn man sie voneinander trennt.
documenta 16: die bestmögliche in ihrer Zeit
Jede documenta ist einzigartig und jeweils die Bestmögliche in ihrer Zeit. Unser
Blick auf die Weltkunstausstellung verändert sich fortlaufend und wir können die Notwendigkeit von Kunst wahrnehmen, ihre Schönheit, Fremdheit, ihre Gründe und Abgründe. Die sechzehnte documenta wird stattfinden und auch sie wird die Bestmögliche sein. Sie wird an unseren festen Strukturen, Gewohnheiten und Identifikationen rütteln und wir werden staunen, was Kunst noch ist!
05.06.2024
Lutz Freyer
ist Künstler und Kurator. Der von ihm entwickelte Schriftzug in art we trust an einer Wand der Kunstzone ist eine seiner programmatischen Arbeiten. Er hat das Hugenottenhausprojekt von 2018 bis 2023 mitentwickelt und im Kernteam
geleitet.
Dieser Debattenbeitrag erschien am 5.6.2024 erstmals im StadtZeit Kassel Magazin.
Die documenta Debatte komplett in der StadtZeit-Ausgabe 120, Seiten 66-67
>> hier zu lesen
mittendrin dokumentiert die vom StadtZeit Kassel Magazin angestoßene Debatte zur Zukunft der Weltkunstausstellung.
Meinung von Prof. Dr. Andreas Hoffmann, Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH lesen Sie >> hier
Meinung von Dr. Wendelin Göbel, Initiator der Petition DOCUMENTA fifteen: Danke! lesen Sie >> hier
Meinung von Dr. Harald Kimpel, Kunstwissenschaftler, Autor und Kurator lesen Sie >> hier