Mehr Chancengleichheit für alle!
Damit sich Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner wohl fühlen und öffentliche Räume gut, sicher und ohne Einschränkungen nutzen können, ist gendersensibles Planen ein zielführender Ansatz. Für eine lebenswerte und inklusive Stadt.
Auf den ersten Blick bewegt sich der Großteil der Stadtbevölkerung ganz selbstverständlich auf der Straße und im öffentlichen Raum. Die Menschen kaufen ein, gehen wochentags zur Arbeit, am Wochenende in die Kneipe, ins Kino, ins Theater oder nehmen andere Freizeitbeschäftigungen wahr. Wer nicht zu Fuß geht, nimmt das Auto, radelt durch die Stadt oder steigt in öffentliche Verkehrsmittel.
Planende, die für diese vermeintliche Mehrheitsgesellschaft die Stadt gestalten, haben dabei oft jene nicht im Blick, die die öffentlichen Räume nicht ohne Weiteres nutzen können. Zum Teil baut die Planung mitunter selbst Hindernisse auf: Frauen gehen im Dunkeln oft mit der Faust oder dem Pfefferspray in der Tasche durch die Stadt, Kinder meiden Räume, in denen sie sich nicht sicher fühlen und anderweitig beeinträchtigte Menschen müssen regelmäßig Umwege in Kauf nehmen, um zu ihrem Ziel zu kommen. Für diese Stadt-Nutzerinnen und -nutzer ist es aus unterschiedlichen Gründen oft komplizierter. Vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche, Seniorinnen und Senioren oder Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, gehören dazu. Und zusammengenommen bilden sie die Mehrheitsgesellschaft, deren Nutzungsbedürfnisse jedoch oft nicht im Fokus stehen.
Im Projekt „Mehr Chancengleichheit und Alltagstauglichkeit durch gendersensibles Planen und Bauen? Kassels suburbane Gebiete im Check“ am Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel haben sich nun zwölf Studierende der Situation in fünf Kasseler Stadtteilen angenähert. Dr. Henriette Bertram und Dr. Wiebke Reinert, die beide am Fachgebiet „Stadterneuerung und Planungstheorie“ der Universität Kassel tätig sind, begleiten das Projekt.
Für eine lebendige Stadt
Damit für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt gut gesorgt ist, ist es wichtig, die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Nutzergruppen zu erkennen und auf diese einzugehen. „Dazu haben die Studierenden Kasseler Stadtteile unter die Lupe genommen, die vorhandene Situation sowie statistische Daten analysiert und entsprechende Verbesserungsvorschläge gemacht,“ sagt Wiebke Reinert. Im Fokus der Untersuchung liegen die Bedarfsansprüche und Alltagsnutzungen in Waldau, Süsterfeld-Helleböhn, Jungfernkopf, Kirchditmold und Harleshausen. Als suburbane, das heißt eher stadtkernferne Stadtteile weisen sie einige Defizite und ungenutzte Potenziale auf. Mittels Befragungen sowie Stadtteilanalysen vor Ort sind die Studierenden so auf die benachteiligten Nutzerinnen und Nutzer eingegangen.
Für jeden Stadtteil eine gute Idee
Die Vielfältigkeit, Offenheit und Diversität im öffentlichen Raum zu fördern, ist das zentrale Element des gendersensiblen Planens. Wie das gelingen kann, zeigen die Ergebnisse des Projekts. Für den Wohnstandort Waldau haben die Studierenden einen vermehrten Bedarf an Orten für Begegnungen und Austausch sowie eine größere Nutzungsmischung festgestellt. Nutzungsmischung meint die verschiedenen Angebote innerhalb eines Stadtteils. Reinen Wohngebieten wie der seit den 1960er-Jahren errichteten Wohnstadt Waldau fehlt es oft an kurzen Wegen zum Arbeitsplatz, der Gesundheitsversorgung oder Anbindung an weiterführende infrastrukturelle Versorgung, die über den Einkauf von Lebensmitteln hinaus geht. Auch in Süsterfeld-Helleböhn wünschen sich die Bewohnenden mehr Begegnungsorte. Die Bewohnerinnen und Bewohner der verschiedenen Wohnstandorte innerhalb des Stadtteils könnten zum Beispiel im neu entstehenden Bürgerhaus zusammenkommen, das eines Tages das baufällige Olof-Palme-Haus ablöst. Vor allem Alleinerziehende fordern mehr Unterstützung. „Dafür haben die Studierenden ein Informationsblatt für Eltern erstellt, in dem sich Interessierte über Anlaufstellen, Vereine und Freizeitangebote informieren können. Das Blatt ist erst einmal ein Prototyp. Einige Mitglieder des Ortsbeirates haben jedoch schon das Gespräch mit den Studierenden gesucht. Vielleicht entwickelt sich da noch Weiteres,“ erklärt Henriette Bertram.
Kreativ und leicht Umsetzbar
Eine wesentliche Erkenntnis aus dem Studierenden-Projekt: Um allen Bürgerinnen und Bürgern ein gutes Lebens- und Sicherheitsgefühl zu bieten, braucht es keine revolutionär neuen Ideen. „Die besondere Stärke von gendersensiblem Planen liegt vor allem darin, dass wir auf bestehende Strukturen innerhalb der Stadt zugreifen und die Vorzüge der öffentlichen Flächen wie Plätzen oder Grünräumen erhalten bleiben,“ erklären die Expertinnen. Gerade im Jungfernkopf lassen sich schnell bessere Angebote für Kinder und Jugendliche schaffen, in dem mehr nutzbare Freiflächen zur Verfügung stehen. Gerade Jugendliche sind auch gerne mal unter sich und können sich hier treffen. Kinder haben die Möglichkeit durchs Grün zu streifen und zu spielen. Auch verbesserte Fußwege, die Kinder sicher allein gehen können, sind ein guter Ansatz, um für mehr Selbstständigkeit der jungen Stadtteilbewohner zu sorgen. In Kirchditmold bietet sich eine Umnutzung der Teichstraße an. „Noch führt der Fahrradweg mitten durch den Außenbereich der Eisdiele, rollende Gefährte wie Kinderwagen, Rollstuhl oder Rollator müssen die ganze Straße runter, um zum nächsten abgesenkten Bürgersteig zu kommen,“ erklärt Wiebke Reinert zur gegenwärtigen Situation. Eine bessere Strukturierung wie zum Beispiel die Verlegung des Fahrradweges, mehr Sitzmöglichkeiten, die zum Treffen einladen und eine Umstrukturierung der sehr trennenden Haltestellensituation würde für alle ein schöneres Gefühl und eine attraktivere Ortsmitte schaffen. In Harleshausen freuen sich die Bewohner zum Beispiel über mehr Grün, Bänke und Orte zur Teilhabe am öffentlichen Leben.
Für eine gerechte und inklusive Stadt
Gendersensibles Planen bietet für alle Stadtnutzenden mehr Möglichkeiten – auch für die, die schon gut in der Stadt leben. „Damit unterscheidet sich unser Projekt auch von barrierefreier Planung, die den Fokus mehr auf Design und technische Aspekte für körperlich beeinträchtige Menschen legt und für diese Personen mehr Mobilität ermöglicht. Das Ziel des gendersensiblen Planens ist die Berücksichtigung und Herstellung von Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger,“ erläutert Henriette Bertram. Wiebke Reinert ergänzt: „Unser Projekt geht dabei weit über Gender-Mainstreaming, das heißt das Leitbild zu mehr Geschlechtergerechtigkeit hinaus, denn wir nehmen ganzheitlich alle Lebenswelten in den Blick, seien es verschiedene Ansprüche an Verkehrswege oder die Raumnutzung. Der weite Blick ermöglicht uns so alle Bewohner und Bewohnerinnen der Stadt einzuschließen und anzubinden. So fördert gendersensibles Planen aktiv die Vielfalt in der Stadt und macht sie zu einem lebens- und liebenswerten Ort.“
Die fünf Kasseler Stadtteile im Kurzüberblick
Waldau: Neue Platten auflegen*
Waldau liegt südöstlich in Kassel und zeichnet sich durch seine klare Strukturierung in Wohnstadt, Aue und Industriepark aus. Seit fast 60 Jahren gibt es die Wohnstadt nun schon – und das ist zu spüren. Plattenbauten reihen sich aneinander, zwischendurch steht auch mal ein Einfamilienhaus. Bei der Entstehung nicht miteingeplant sind vor allem die Alltagstauglichkeit und soziale Infrastrukturen, das sind zum Beispiel Nahversorgung, Bildungseinrichtungen, medizinische Versorgung oder Kultur- und Sportangebote. Die Studierenden schlagen ein Aufbrechen der Wohn-Freizeit-Industriestruktur vor. Darüber hinaus äußern die Bewohnerinnen und Bewohner auch vermehrten Bedarf an Begegnungsorten.
Süsterfeld-Helleböhn: Du bist nicht allein
In Süsterfeld-Helleböhn leben viele Alleinerziehende, die im Südwesten der Stadt zwischen Bahntrasse und Dönche wohnen. Bewohnerinnen und Bewohner haben hier eine gute Anbindung über öffentliche Verkehrsmittel, viel Grün und leben in vier unterschiedlichen Siedlungsbereichen, die sich strukturell stark unterscheiden. Das zeigt sich auch in der unterschiedlichen Nutzungsauslegung der Wohnviertel, die viel Potenzial für eine gendersensible Verbesserung hat. Die Maßnahmen für mehr Chancengleichheit für alle Familienmodelle bestehen aus mehr Begegnungsorten und vor allem besseren Fußwegen. Auch ein erhöhtes Angebot für Alleinerziehende sorgt für mehr Lebensqualität.
Jungfernkopf: Bauen auf Gerechtigkeit
Der Jungfernkopf im Südwesten Kassels liegt entsprechend am Südhang und bietet viel Sonne. Der dörfliche Charakter zeigt sich auch in der Bevölkerungs- und Altersstruktur. Durch die Siedlungserweiterung treffen nun neue und alte Infrastrukturen und Interessen aufeinander. Dadurch werden auch die Defizite und Potenziale sichtbar. Die Lebenswelt und Mobilität von Kindern und Jugendlichen steht bei der Analyse besonders im Fokus. Das zeigen auch die Ergebnisse, denn die Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils wünschen sich vor allem mehr Angebote für junge Menschen sowie bessere Wege für Fußgänger und Radfahrer. So lassen sich die Alltagswege erleichtern.
Kirchditmold: Raum für alle?
Auch in Kirchditmold im nordwestlichen Kassel fanden die Studierenden Potenzial. Vor allem im Kernbereich der Teichstraße treffen viele Nutzergruppen und Interessen aufeinander. Damit sich alle Bewohnerinnen und Bewohner im öffentlichen Raum wohl fühlen, ist es wichtig, auf möglichst viele Bedürfnisse einzugehen. Möglich macht das eine potenzielle Umnutzung der Teichstraße. Mehr Sicherheit und Begegnungsorte bringen vor allem mehr Sitzplätze und eine Verschiebung des Fahrradwegs, der im Moment mit dem Außenbereich der Eisdiele kollidiert. Vor allem Jugendliche, Anwohnende sowie Nutzerinnen und Nutzer des Personennahverkehrs profitieren davon und es kann eine attraktive Ortsmitte entstehen.
Harleshausen: Alle(s) im grünen Bereich?
Harleshausen liegt im äußersten Nordwesten der Stadt und beherbergt einen Teil des Habichtswaldes. Vor allem junge Familien ziehen vermehrt in den Stadtteil und senken damit das Durchschnittsalter des eher von älteren Menschen bewohnten Viertels. Gerade im Punkt Mobilität freuen sich alle Nutzergruppen über einfache und sichere Möglichkeiten wie Straßenübergänge oder Bänke. Weitere Defizite in der räumlichen Struktur lassen sich durch bessere Möblierung und Ausstattung, mehr Vegetation und multifunktionale Orte der Begegnung ausgleichen. So entsteht auch ein größeres Sicherheits- und Teilhabegefühl für alle Bewohnerinnen und Bewohner.
*Diese Titel oder auch zentrale Fragen wählten die Studierenden für die Vorstellung des jeweiligen Stadtteils in ihrem gut 350 Seiten starken Reader aus.
27.07.2022
Autorin: Paula Behrendts
Auch im StadtZeit Kassel Magazin, Ausgabe 110, Juni/Juli 2022
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Oder als Podcast im StadtLabor:
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