Sich überall zuhause fühlen!
Dritte Orte bringen Menschen zusammen und ermöglichen gemeinsame Erlebnisse. So kommt mehr Leben in öffentliche Räume.
In der Öffentlichkeit kommen Menschen fernab der Arbeit und außerhalb ihres Zuhauses zusammen und tauschen sich aus. Diese Orte ermöglichen gesellschaftliches Zusammenleben, an dem wirklich alle teilhaben.
Das ruruHaus, das im Sommer 2022 im Zusammenhang mit der documenta fifteen entstand, war sowohl für Besucher:innen als auch für die Kasseler Bürger:innen ein zentraler Anlaufpunkt in der Innenstadt. Die Menschen trafen sich dort wegen der Lage der Räumlichkeiten, der Bequemlichkeit der Einrichtungen und zum Austausch mit anderen. Wartezeiten ließen sich in den kühlen Räumen mit Kaffeetrinken, Kunstgucken und Beineausruhen überbrücken. Andere luden ihre Smartphones, stöberten durch den Museums-Shop oder nahmen an den zahlreichen Workshops teil. Schulklassen führten angeregte Diskussionen, die Mitarbeitenden der umliegenden Geschäfte genossen ihre Mittagspause und documenta-Gäste gaben sich gegenseitig Tipps. Nach Ende der Ausstellung schloss das ruruHaus seine Pforten wieder. Damit verschwand ein wichtiger Ort für Begegnung und Austausch aus Kassel.
Gesellschaftliche Tuchfühlung geht verloren
Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg kritisiert in den 1980ern die gesellschaftliche Situation in den USA. Er bemängelt, dass der Erste Ort, das Zuhause, und der Zweite Ort, der Arbeitsplatz, sehr weit auseinanderliegen. Da die meisten Menschen lange zur Arbeit pendeln und diesen Weg nicht mehr zu Fuß gehen können, fallen viele Begegnungen in öffentlichen Räumen weg. Dadurch verlieren die Menschen den Kontakt zueinander und es bleibt immer weniger Zeit für spontane gemeinsame Erlebnisse. Oldenburg befürchtet, dass so die gesellschaftliche Verständigung und auch die Tuchfühlung zueinander, die an diesen sogenannten „Dritten Orten“ stattfindet, verloren geht. Um den Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft zu stärken, setzt Oldenburg in den 1980ern auf die Festigung und den Ausbau der Dritten Orte. Als „Brücke” zwischen Wohnort und Arbeitsplatz kommen Menschen hier ungeplant zusammen und tauschen sich aus. Nachbarn und Nachbarinnen begegnen sich zufällig beim Bäcker oder auf dem kleinen Markt im Quartier und treffen auf dem Weg nachhause Bekannte, die sie über drei Ecken kennen. Auch andere Orte bieten tolle Möglichkeiten, um spontan zusammenzukommen, zu entspannen und neue Freundschaften aufzubauen. Dazu gehören Cafés, Kneipen und Geschäfte sowie Vereine, Fitnessstudios oder Stadtteilzentren. So entsteht eine lebendige Stadtgesellschaft, in der Austausch, Vernetzung und Begegnungen vor allem in der Öffentlichkeit stattfinden.
Neue Dritte Orte finden
Die Dritten Orte, die Ray Oldenburg in den 1980er Jahren definierte, zum Beispiel Kaffeehäuser, Pubs und Biergärten, sind bereits zu dieser Zeit hauptsächlich kommerziell geprägt. Heute trifft dies noch viel stärker auf öffentliche Orte in westlich orientierten Gesellschaften mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu. Viele Konsumkritiker:innen sprechen deshalb vor allem den großen Ketten- und Franchise-Unternehmen, die zunehmend den öffentlichen Raum dominieren, den Charakter eines Forums für den öffentlichen Austausch ab. Dazu gehören beispielsweise Shopping-Malls, die kleinere lokale Geschäfte und Läden verdrängen. Stattdessen sind diese ehemals öffentlichen Räume zunehmend privatisiert und mit strengen Hausordnungen belegt. Damit sind sie nicht allen Menschen gleichermaßen zugänglich, sondern beispielsweise mit dem Kauf eines Kaffees, eines Bieres, dem Bezahlen von Clubmitgliedschaften oder Eintritten verbunden. Öffentlichkeit ist daher kein selbstverständlicher Zustand mehr, stattdessen müssen wir als Gesellschaft aktiv daran arbeiten, in Diskurs zu treten. Deshalb gilt es, noch dringlicher als in den 1980ern, für eine lebenswerte Zukunft neue Orte zu schaffen und mit zu entdecken, an denen Menschen sich spontan begegnen, austauschen und Freundschaften entwickeln können, ohne gezwungen zu sein, dafür Geld in die Hand zu nehmen.
Orte für jeden schaffen
Welche Orte das sind und sein können, diskutieren im Moment verschiedene Disziplinen. So macht sich zum Beispiel die Kulturlandschaft auf den Weg, ihre Museen, Bibliotheken und Kunsthallen zu Orten der Zusammenkunft zu gestalten. Darüber hinaus kaufen und renovieren Zusammenschlüsse von Privatpersonen Häuser für ein buntes, flexibles und gemeinschaftliches Leben. Die Planungsdisziplinen der Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung entwickeln Konzepte für neue Orte oder die Weiterentwicklung bestehender Räume. Das können öffentliche Räume wie Parks oder Plätze oder auch Einrichtungen wie Bildungs-, Sport- und Kulturstätten sein. Ergänzende Ausstattung wie Palettenmöbel auf städtischen Freiflächen verbessern die Aufenthaltsqualität und bieten einen Wohlfühlort. Vor allem Bibliotheken machen sich vielerorts auf den Weg, um Dritte Orte zu werden. Die Kulturstiftung des Bundes finanzierte von 2018 bis 2022 unter dem Titel „hochdrei” diese Weiterentwicklung von Bibliotheken zu Orten des öffentlichen Lebens. Dr. Karsten Schuldt, Bibliothekswissenschaftler hat zusammen mit Studierenden in der Studie „Ist die Bibliothek (wirklich) ein Dritter Ort?” herausgefunden, dass Bibliotheken noch nicht alle Ansprüche an Dritte Orte erfüllen. Vor allem das Verbot, zu essen oder laut zu reden, hindert Besucher:innen noch daran, sich frei auszuleben. Im Moment bleiben Bibliotheksgäste eher unter sich und finden sich selten dort für Treffen ein. Stattdessen dominiert die traditionelle Nutzungsweise der Räumlichkeiten. Jetzt, wo diese Herausforderungen bekannt sind, können Planer:innen sie als Anregungen in zukünftige Projekte, egal ob Neu- oder Umbauten, einfließen lassen. Abgetrennte Gruppenarbeitsräume, einladende Sitzmöbel oder ein integriertes Café bieten gute Anregungen, um Bibliotheken auf ihrem Weg zu Dritten Orten zu unterstützen.
In Gemeinschaft auf dem Land leben
Dritte Orte finden sich natürlich auch in ländlichen Räumen wieder. Dort sind sie ein wichtiges Bindeglied für die Gemeinschaft, weshalb es inzwischen eine Vielzahl von Förderprojekten gibt, die ebendiese Räume unterstützen. Dr. Katja Drews, die an der Universität Hildesheim zu Dritten Orten in ländlichen Räumen forscht, erklärt, dass Dritte Orte auf dem Land dem Wunsch nach zivilgesellschaftlicher Teilhabe und öffentlichem Engagement entsprechen. Sie hätten darüber hinaus das Potenzial, Hürden und Sperren in Bildungsprozessen abzubauen und durch das Zusammenkommen ungleiche Machtverteilungen aufzulösen. Denn Menschen unterschiedlicher Hintergründe gestalten so gemeinsam ihre eigenen Lebensräume und nähern sich einander in diesen Prozessen an. Für diese Formen der Gemeinschaftsbildung gibt es auch in Hessen Förderprogramme, die Kleinstädte dabei unterstützen, Gemeinschaftsräume wie Kulturhäuser, Bürgerzentren und Bibliotheken auszubauen. In Homberg (Efze) entsteht beispielsweise die “Co-Working Galerie”, ein Ort, an dem Menschen gemeinsam arbeiten und sich austauschen können. Das füllt ein leerstehendes Gebäude in der historischen Altstadt mit neuem Leben.
Virtuell zusammenkommen
Besonderes Potenzial bietet auch die Digitalisierung. Durch sie kommen immer mehr Menschen zum Austausch auf virtuellem „Boden“ zusammen, was vor allem an dem niedrigschwelligen Zugang dieser Orte liegt. Anforderungen bestehen allerdings für die technische Ausstattung und eventuelle finanzielle Ausgaben durch Mitgliedschaften in Netzwerken, Foren und Spielen, die nicht für alle Personen stemmbar sind. Vor allem in Zeiten von Homeoffice verschwimmen durch die Digitalisierung die Grenzen zwischen den Orten, wie Ray Oldenburg sie in den 1980ern definierte. Der Erste Ort, das Zuhause, ist für Menschen im Homeoffice gleichzeitig der Zweite Ort, der Arbeitsplatz und in vielen Fällen auch der Dritte Ort, wenn sie sich nach der Arbeit in den sozialen Medien aufhalten. Auch Coworking-Spaces sind Teil dieser Auflösung, da dort Arbeit und soziale Vernetzung aufeinandertreffen und gleichzeitig stattfinden.
Gemeinschaft in den Vordergrund stellen
Orte der Gemeinschaft sind wichtig für das gesellschaftliche Zusammenleben. Da es verschiedene Wünsche und Anforderungen für Dritte Orte gibt, lohnt es sich, bei der Ausgestaltung von Gemeinschaftsräumen aus vielen Blickwinkeln heraus und partizipativ mit den Nutzenden zu arbeiten. So können viele Menschen ihre Positionen einbringen und Räume schaffen, in denen sie sich wohlfühlen und miteinander ins Gespräch kommen können. Ob diese Begegnungsräume dann immer noch Dritte Orte in Oldenburgs Sinn sind, ist dabei nicht so wichtig. Hauptsache, Kommunikation und Austausch sowie gemeinschaftliches Erleben stehen im Vordergrund!
20.09.2023
Text:
Paula Behrendts &
Marlena Multhaupt
Auch in der Ausgabe 117, Herbst 2023
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