Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen
Ein Projekt zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Christine Brückner
Interview mit Çağla Şahin, die im Jahr 2021 mit ihrer Rede eingeladen wurde
Çağla Şahin ist 25 Jahre alt und studiert in München Schauspiel an der Theaterakademie August Everding. Im Jahr 2021 folgte sie wie 118 andere Frauen dem Aufruf, eine „ungehaltene Rede“ zu verfassen, und wurde damit nach Kassel eingeladen. Sie ist in diesem Jahr Mitglied der Jury, die neue „ungehaltene Reden“ auswählen wird. Julia Hagen, Dramaturgin im Projekt, hat sich mit Çağla Şahin über die Erfahrungen mit ihrer Rede unterhalten.
Wie bist du auf das Projekt „Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ aufmerksam geworden?
Ich bin auf das Projekt durch eine Freundin aufmerksam geworden, die gesagt hat „Hey, du hast doch wahnsinnig viel zu erzählen, und hier ist die Möglichkeit, vielleicht mal über ein Thema zu sprechen, das dich total beschäftigt. Mach da doch mit und schau, wo das hinführt.“ Also habe ich mir den Aufruf angeschaut, gesehen, dass ich lediglich ein Video einer Rede mit einem Thema meiner Wahl einschicken muss, und das war’s auch schon.
Das heißt, du wusstest du sofort, über welches Thema du sprechen willst?
Ich fand, das war die beste Gelegenheit und der perfekte Aufhänger für das Thema, über das ich sprechen wollte: was es nämlich bedeutet, mit so viel Scham und Angst in zwei Kulturen aufzuwachsen. Ich sage es auch genau so klar in meiner Rede: Was mich ungehalten macht, ist, dass ich schon als kleines Mädchen gelernt habe, mich für die natürlichsten und alltäglichsten Dinge zu schämen. Auch gesamtgesellschaftlich liegt der Grund in der Erziehung von jungen Mädchen und Frauen.
Wie hast du dich gefühlt, als du ausgewählt wurdest und wusstest: Jetzt werde ich über dieses persönliche Thema in der Öffentlichkeit live sprechen?
Als ich das erfahren habe, konnte ich es erstmal überhaupt nicht fassen: Endlich, endlich darf ich über dieses Thema sprechen.“ Natürlich war der Gedanke, jetzt das Ganze live aussprechen zu müssen, super aufregend und gleichzeitig auch ein bisschen einschüchternd. Aber dennoch wusste ich, ich will das unbedingt machen.
Im Augenblick gibt es ja wieder eine Ausschreibung, und du wirst mit auswählen, wer am Ende eingeladen wird, die eigene Rede vor Publikum zu halten. Was ist dir bei einer Rede besonders wichtig?
Ich glaube, was mir bei einer Rede am wichtigsten ist, ist weniger das Thema, sondern wie nah das, was die Person vorträgt, an ihr dran ist. Dass die Rednerinnen über ein Thema sprechen, das für sie total persönlich ist. Natürlich hoffe ich auch darauf, dass die Rednerinnen gesellschaftlich relevante Themen verhandeln.
Was würdest du Frauen raten, die nicht wie du regelmäßig auf der Bühne stehen, aber überlegen, ob sie bei „Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ teilnehmen?
Alle Frauen können ungehaltene Frauen sein, völlig unabhängig davon, was sie beruflich machen. Ich rate ihnen: „Seid mutig, traut euch, das zu sagen, was ihr der Welt zu sagen habt, auch wenn ihr vielleicht Lampenfieber habt! Alle Menschen, die sich eure Rede anhören, wollen hören, was ihr zu sagen habt, und deswegen sagt es bitte einfach.
Ich stehe schon seit einigen Jahren auf Bühnen und habe jedes Mal Lampenfieber, ich verspreche mich total oft und bin immer super aufgeregt. Aber eine Sache begleitet mich durch all meine Erfahrungen, die ich auf der Bühne oder beim Vortragen von Texten mache: und zwar die Freude daran, das zu zeigen, was ich für die Welt vorbereitet habe, und das zu teilen, was andere Menschen dringend hören müssen. Wenn ihr da draußen euch davon angesprochen fühlt, dann bewerbt euch bitte, denn verlieren könnt ihr sowieso nichts.“
Aufruf und Projekt
Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft sind eingeladen, am 10. Dezember 2022 im Kasseler Rathaus eine ‚ungehaltene‘ Rede zu halten! Dazu haben die Stiftung Brückner-Kühner und der Verlag S. Fischer Theater und Medien in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Frauenbewegung, der Stadt Kassel und hr2-kultur aufgerufen.
Einsendeschluss ist der 31. Juli 2022.
Der Aufruf will alle Frauen, die etwas zu sagen haben, ermutigen, eine Rede zu verfassen – deutschsprachig und nicht länger als 10 Minuten. Das Thema ist frei wählbar. Das Mitgeteilte sollte aber von gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung sein. Da es auch auf den Vortrag der Rede ankommt, müssen alle Reden als Video eingereicht auf ungehalten.net eingereicht werden. Dort sind auch alle Details zur Teilnahme zu erfahren. Eine Jury wird aus den Einreichungen die sechs Reden für den 10. Dezember, Tag der Menschenrechte, auswählen. Alle eingeladenen Rednerinnen erhalten für ihren Vortrag ein Honorar von 500 Euro und die Erstattung der Reisekosten. Weitere Reden sollen auf ungehalten.net und in einer Anthologie des S. Fischer-Verlages veröffentlicht werden.
Hintergrund
Das Projekt ist im Jahr 2021 gestartet. Der ersten Ausschreibung folgten 119 Frauen, von denen sechs ins Kasseler Rathaus eingeladen wurden. Die Veranstaltung fand großes Interesse beim Publikum und in den Medien. Im Kulturradio hr2-kultur wurde die Veranstaltung gesendet, und der S. Fischer-Verlag brachte 19 Reden in seiner Zeitschrift „Neue Rundschau“ heraus. Eine Auswahl der Reden aus dem Jahr 2022 soll wieder bei S. Fischer erscheinen.
Der 10. Dezember ist zudem der Geburtstag der Schriftstellerin Christine Brückner (1921–1996), die mit ihren als Buch und auf der Bühne sehr erfolgreichen Monologen „Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ (1983) die Idee für dieses Projekt geliefert hat.
Weitere Informationen unter: https://ungehalten.net
01.07.2022
Pressemeldung: Stiftung Brückner–Kühner
Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen
Einsendungen neuer Reden
bis 31. Juli 2022
Weitere Informationen unter: https://ungehalten.net