Wie die Moderne nach Kassel kam
Unter schweren wirtschaftlichen Bedingungen entstand von 1925 bis 1930 die Riedwiesensiedlung. Hans Soeder realisierte 98 Häuser am Kasseler Stadtrand. Ihr einmaliges Erscheinungsbild, die fortschrittliche Konstruktion und die modernen Grundrisse sind bis heute begehrt.
1919 schlossen sich 107 Privatleute zur Gründung der „Erbbau-Genossenschaft Cassel“ zusammen, um von der Stadt Kassel Baugrund für Siedlungszwecke zu erhalten und damit der Wohnungsnot entgegenzuwirken. Die Stadt Kassel übergab ihnen ein Gebiet im Westen von Kassel, unweit des Staatsforstes Wilhelmshöhe – die heutige Riedwiesensiedlung.
Die Satzung der Gemeinschaft besagte, dass ihren Mitgliedern durch die Errichtung von Ein- und Zweifamilienhäusern mit großen Gartenflächen, gesunder und günstiger Wohnraum zur Verfügung stehe. Bauwillige erhielten ihre Grundstücke von der Genossenschaft auf Grundlage des Erbbaurechtes und waren somit unkündbar.
Der finale Bebauungsplan entstand 1925 durch den Architekten Hans Soeder. Soeder legte drei verschiedene Haustypen für die Siedlung fest. Wegen Geldnot realisierte die Genossenschaft nur die Gebäude mit Satteldach und übernahm die bereits festgelegte Straßenführung und die Grundstückszuschnitte. Es fällt schwer, die Siedlungsanlage zu verstehen: Die Häuser sind zur Sonne ausgerichtet und nicht einheitlich entlang der Straßen angeordnet. Durch die fehlende Verbindung zur Straße entstand eine Trennung der einzelnen Funktionen – die Straßen dienten ausschließlich der Erschließung und boten keine Aufenthaltsqualität. Unter den Gebäudeanordnungen litten einige Gartenflächen der 600 bis 1.000qm großen Grundstücke. Bei mittig auf den Grundstücken platzierten Gebäuden setzen sich die Gärten nur aus „Restflächen“ zusammen. Die Ausrichtung der Häuser hatte für den Architekten oberste Priorität. Durch ihre Nord-Süd Orientierung entsprachen die Riedwiesenhäuser den Idealen der Zeit, die in der Forderung nach Licht, Luft und Sonne bestanden.
Die äußere Gestaltung der Gebäude ist einheitlich. Es entstanden Einzel- und Doppelhäuser, die die Genossenschaftsmitglieder und Genossenschaftsmitgliederinnen entweder als Geschosswohnungen oder als Einfamilienhäuser bezogen. Auf den recht niedrigen quaderförmigen Erdgeschossen thronen Satteldächer, die der Architekt als fast gleichseitige Dreiecke ausführen ließ. Die Handwersbetriebe sparten durch den Verzicht auf den Dachüberstand viel Material. Wegen den großen auffälligen Dächern bekam die Siedlung bald den Spitznamen „Dachhausen“.
Durchdachte Konstruktion schafft maximale Wohnfläche
Der Bebauungsplan schrieb in dem Siedlungsgebiet eine eingeschossige Bauweise vor. Trotzdem plante Soeder die Häuser mit einer Grundfläche von 80qm und einer Nutzfläche von mindestens 160qm. Um möglichst viel Wohnraum in den Dachgeschossen unterzubringen, liegt der Fußpunkt der Häuser etwa einen Meter über den Grundmauern, sodass ein um 55 Grad geneigtes Kehlbalkendach enstand. Die beiden Dachgeschosse sind fast genauso groß wie die Erdgeschossgrundrisse und die Wände der Dachgeschosse beinahe senkrecht. Der Preis für den umbauten Raum sank durch die steilen Satteldächer erheblich. Mit ihrer aufgelockerten Bebauung und den großen Gärten wurde das Ideal der Gartenvorstadt, des stadtnahen Lebens im Grünen, im Einklang mit der Natur, angestrebt. Die Siedlung wirkt wie eine überdimensionierte Schrebergartenkolonie. Distanz und Nachbarschaftspflege sind gleichermaßen möglich.
Die Baugenosschenschaft ließ bis 1930 insgesamt 98 Häuser mit 130 Wohnungen nach Hans Soeders Konzept in der Riedwiesensiedlung realisieren. Die Wohnungen bezogen größtenteils Pädagogen, Pädagoginnen, Beamte und Beamtinnen. Daher bekam die Siedlung die Spitznamen „Großhirnrinde“, „Tintenviertel“ oder „geistiges Dorf“.
Äußerlich wirken die Häuser der Riedwiesensiedlung wie traditionelle, ländliche Bauernhäuser. Auf einen städtischen Charakter verzichtete Soeder. Die Gebäude sind zeitlos und weisen durch die Trennung der Baukörper – also des Daches und der Außenwände – eine klare Form auf. Innerlich überzeugen die zukunftsweisenden und durchdachten Grundrisse. Jedes Riedwiesenhaus verfügt über besonders platzsparende Treppen und praktische Einbauschränke. Die Raumgrößen betragen mindestens 13qm und entsprechen auch den heutigen Bedürfnissen.
Eine weitere Auffälligkeit der Siedlung ist die moderne Farbigkeit der Häuser. Die Fassaden sind nicht dekoriert, aber bunt verputzt mit Komplementärfarben, größtenteils in Pastelltönen. Durch den farbigen Anstrich der Häuser erhielt die Siedlung den Spitznamen „Puddingkolonie“.
Die Siedlung erfüllt alle Kriterien des Siedlungsbaues der Moderne und der Zwanziger-Jahre. Durch die idyllische, ruhige Lage, die einheitlichen Häuser und die vielen Gartenflächen, wirkt die Siedlung wie ein eigenständiges Dorf. Durch die großen Gärten bestand die Möglichkeit von Selbstversorgung, die Bewohnerschaft war aber nicht darauf angewiesen.
Die Stadt nahm die Siedlung sehr gut an. Folglich nahm sogar die Bautätigkeit am westlichen Stadtrand Kassels zu.
Die Stadt Kassel stellte die Riedwiesensiedlung 1976 als zweite Wohnanlage – nach der Rothenbergsiedlung – unter Denkmalschutz. Die auffällige Farbgebung der Riedwiesenhäuser kommt heute schrittweise zurück. Die Häuser verloren ihre ehemals geometrischen Formen -durch notwendige Sanierungsarbeiten vergrößerte sich die leichte Traufe, an den Giebelseiten kam ein Wetterschutz hinzu und die Gebäude wurden gedämmt.
Bis heute sind die Mieten in der Riedwiesensiedlung vergleichsweise gering. Wer allerdings in den Erbbauvertrag einsteigen und dort wohnen möchte, muss eine lange Warteliste durchlaufen. Aufgrund der beständigen Bewohnerschaft und des Vorranges von Mitgliedern kann es mehrere Jahre dauern, bis ein Einzug möglich wird. Wer einmal dort wohnt, ist allerdings unkündbar und einer seiner Erben erhält ein Mietvorrecht.
Abb. 1: Blick in die Straße am Diedichsborn. Eigene Aufnahme.
Abb. 2: Zum Berggarten 30 in den Riedwiesen. Blick auf die Nord-Ost Ecke. Eigene Aufnahme.
Abb. 3 (Titelseite): Blick von der Riedwiesensiedlung auf den Herkules. Eigene Aufnahme.
Literatur:
– Erbbaugenossenschaft Kassel eG. (Hg.): 100 Jahre Erbbaugenossenschaft eG 1919 – 2019, Kassel 2019.
– Erbbaugenossenschaft Kassel eG (Hg.): Erbbau-Genossenschaft E.G.m.b.H. Kassel 1919 – 1969, Kassel 1969.
– Erbbaugenossenschaft Kassel eG (Hg.): 75 Jahre Erbbau-Genossenschaft Kassel eG 1919-1994, Kassel 1994.
– Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hg.): Kulturdenkmäler in Hessen Stadt Kassel III, Stuttgart 2008.
Die Autorin
Eva Rohland beschäftigte sich im Rahmen ihres Studiums mit dem Architekten Hans Soeder und ist von seinem spannenden Lebenslauf, seinen innovativen Entwürfen und seiner wegweisenden Lehre an der Kasseler Kunstakademie beeindruckt.