Zeit für ein neues Kapitel
Meinung von Dr. Sven Schoeller, Oberbürgermeister der Stadt Kassel sowie Aufsichtsratsvorsitzender der documenta und Museum Fridericianum gGmbH.
Die Geschichte der documenta ist eine Geschichte epochaler Wandlungen. Die bedeutsamste Ausstellung zeitgenössischer Kunst war stets dazu im Stande, sich selbst neu zu erfinden. Sie wird es wieder tun.
Bereits die ersten von Arnold Bode kuratierten Ausstellungen führten zu einer richtungsweisenden Änderung des Erlebnisraums der Kunst für die Besucherinnen und Besucher. Die Ausstellungspraxis ging bei der documenta von Beginn an eine enge und unauflösliche Verbindung mit der Stadt – dem damals kriegszerstörten – Kassel ein. Das Fridericianum und die Orangerie eröffneten dem Publikum eine einzigartige Kulisse der Kunstrezeption, in der die kuratorischen Ideen, wie beispielsweise die Ausstellung von in der Nazizeit verfemten Kunstwerken, große Wirkung entfalteten.
Das Zusammenspiel zwischen den Werken und der Umgebung in der sie präsentiert werden, hat die Bedeutung des Kuratierens bereits mit der „d1“ auf eine gänzlich neue Ebene avanciert.
Neben dem engen Bündnis zwischen Stadt und Ausstellung wurde zudem eine sich stets fortentwickelnde Verschränkung zwischen der documenta und ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext in Lauf gesetzt. Dabei erfuhren die kuratorischen Maßstäbe des Kunstbetriebs und der Kunstvermittlung mit der documenta über die Jahrzehnte ihres Bestehens und verschiedener künstlerischer Leitungen hinweg eine fundamentale und revolutionäre
Veränderung. Die von der documenta maßgeblich geprägte Entwicklung zeitgenössischer Kunst von einem gesellschaftlichen Erlebnisraum zu einem kollektiven soziokulturellen Raum der Erfahrung, des Austausches und des Diskurses kosmopolitischer, globaler Fragen hat den Begriff der Kunst beständig erweitert. Auf der vorläufigen Endstufe „Lumbung“ ist Kunst die alltägliche Gemeinschaft und die Verwirklichung sozialer Prinzipien.
Toleranz und Vertrauen
Vor dem Hintergrund dieser Genese gilt es, die im Zusammenhang mit den Ereignissen auf und um die d15 entstandene Diskussion über den Schutz künstlerischer Freiheit als den genetischen Code der Ausstellung zu verstehen und einzuordnen. Wenn sich der Kunstbegriff so erweitert hat, dass das alltägliche Leben zur Kunst wird, was bedeutet das für den Schutz der Kunstfreiheit? Zugespitzt gefragt: Wenn alles Kunst ist, schützt die Kunstfreiheit dann alles? Ist die Kunstfreiheit dann das alles überragende Supergrundrecht des Grundgesetzes? Überragt sie im Rang gar den Schutz menschlicher Würde?
Die Antwort ist in der Theorie einfach, in der Praxis jedoch kompliziert und keinesfalls schematisch zu geben. Eindeutig lässt sich festhalten, dass die documenta aufgrund ihrer entstandenen Konzeption zu einem öffentlichen Diskursraum globaler Konfliktthemen gepaart mit ihrem weltweiten Radius der Aufmerksamkeit eine gewollte und systemimmanente hohe Attraktivität für die Platzierung zugespitzter bis radikaler Positionen aufweist.
Das System der documenta wiederum basiert auf Toleranz und Vertrauen. Der Künstlerischen Leitung wird die Stadt zur Durchführung der Ausstellung anvertraut und alles, was im Rahmen der Gesetze dort veranstaltet wird, wird toleriert werden. Aber die veranstaltende Träger-Gesellschaft ist nicht verpflichtet, alles schweigend zu tolerieren. Sie ist ein Akteur, der sich in Fällen, wie sie auf der documenta 15 aufgetreten sind, kontextualisierend äußern darf und dies auch muss.
Die documenta ist nun durch grundlegende organisatorische Änderungen und die durch Analysen erzielten Erkenntnisgewinne gewappnet, die Ausstellung zukünftig vor Reputationsverlusten zu bewahren, ihren Schutzauftrag zu erfüllen und gleichzeitig das documenta-Prinzip von Vertrauen und Toleranz unangetastet zu lassen. Mit diesen Konsequenzen aus einer schweren Krise der Ausstellung geht die documenta auch für andere Ausstellungsformate beispielgebend voran.
Eine wichtige Etappe
… hat die documenta auf dem Weg zur nächsten Ausstellung bereits genommen.
Die im Juli 2024 berufene neue Findungskommission bringt alle wichtigen Voraussetzungen dafür mit, eine Künstlerische Leitung für die documenta 16 zu finden, die für diese Ausstellung dann erneut weltweit neuartige Blickwinkel auf die Kunstwelt, die beteiligten Künstlerinnen und Künstler wie auf das Kuratieren ausloten wird.
Das ist nicht nur spannend für die documenta, sondern auch für Kassel. Denn beides lässt sich nicht trennen. In keiner Metropole der Welt würde die documenta diesen Wirkungsgrad entfalten können. Das liegt an der genialen Idee, eine ganze Stadt einschließlich der Stadtgesellschaft zur eigentlichen Plattform der Ausstellung zu machen. Dies hat die documenta tief mit der Stadt verwachsen lassen. Die documenta ist ein Maßanzug, der für Kassel geschneidert wurde und nur hier sitzt. Andere Städte haben hervorragende Ausstellungen. Der Unterschied ist kurz gesagt: Venedig hat eine Biennale – Kassel ist die documenta.
30.08.2024
Dr. Sven Schoeller
ist seit Juli 2023 Oberbürgermeister der Stadt Kassel sowie Aufsichtsratsvorsitzender der documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Der promovierte Jurist arbeitete zuvor als Rechtsanwalt in Kassel und war von 2021 bis 2023 Mitglied der Kasseler Stadtverordnetenversammlung.
Dieser Debattenbeitrag erschien am 28.8.2024 erstmals im StadtZeit Kassel Magazin.
Die documenta Debatte komplett in der StadtZeit-Ausgabe 121, Herbst 2024 zu lesen ab Seite 57
>> hier zu lesen
mittendrin dokumentiert die vom StadtZeit Kassel Magazin angestoßene Debatte zur Zukunft der Weltkunstausstellung.
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