Die documenta ist kein kranker Patient!
Meinung von Dr. Eva M. Schulz-Jander, Doktorin der Romanistik und Philosophie und Ehrenbürgerin der Stadt Kassel.
Warum wollen alle die documenta retten? Wer hat überhaupt gesagt, dass sie in Gefahr ist? Die Diskussion über eine vermeintliche documenta Dämmerung treibt absurde Blüten.
Die einen sprechen von „Entkunstung“ und wollen die Ausstellungsreihe zu einem würdigen Ende bringen, weil sie das neue Verhältnis von Kunst und Gesellschaft und die „Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“ im Sinne Wolfgang Ulrichs nicht mehr verstehen. ,Andere meinen, die Rückkehr zu einer „Kunst“ ohne aktuellen Gesellschaftsbezug könne sie retten, ohne zu sehen, dass die Gegenwartskunst Position beziehen möchte zu den multiplen Krisen unserer Gegenwart.
Warum wird den Arbeitsstrukturen und der Geschäftsführung von Andreas Hoffmann so wenig Vertrauen entgegengebracht? Bei keiner der 15 documenta-Ausstellungen sind die Arbeitsschritte auf dem Weg zu einer documenta Ausstellung so sehr öffentlich verhandelt worden, bei keiner musste der Geschäftsführer immer wieder seine Arbeitsweise, seine Kompetenzen und sei-
ne Grenzen deutlich machen.
Die documenta 15 bedeutet eine Zäsur, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann. Sie nahm die polarisierte Diskussion nach den schrecklichen Terrorakten der Hamas am 7. Oktober 2023 vorweg. Eine Zäsur insofern, dass die zukünftige documenta, als künstlerischer Spiegel unserer Zeit, Themen künstlerisch verhandeln wird und muss, die weltweit zur Diskussion stehen. Und dazu gehört auch der Antisemitismus als virulentes Thema.
Kooperatives Arbeitsverhältnis
Wir haben im Herbst 2023 erlebt, wie in einer besonders schwierigen weltpolitischen Situation eine Findungskommission immer stärker unter Druck geraten ist und am Ende entschied, den Findungsprozess nicht weiter fortzusetzen. Die documenta gGmbH steht mit diesen Herausforderungen nicht allein da, noch immer werden Ausstellungen abgesagt, Preise zurückgezogen. Die Diskussionskultur kann man als zumeist polarisiert bezeichnen. Statt nur auf Probleme zu schauen, möchte ich das betrachten, was bisher an Positivem zu bemerken ist.
• Die documenta hat sich in den letzten Jahren zu einer sehr großen, komplexen Organisation mit mehreren eigenständigen Abteilungen (documenta Archiv, documenta Zentrum, Museum Fridericianum gGmbH) entwickelt, die als „einatmende Organisation“ bis zum documenta Jahr auf mehr als 1.000 Beschäftigte anwächst. Sie hat eine groß angelegte Strukturreform vollzogen, um sich und ihre Strukturenfür eine erfolgreiche Zukunft zugleich in der Reaktion auf Krisen auch resilienter zu machen. Der Handlungsspielraum der künstlerischen Leitung, aber auch der Gesellschafter und Geschäftsführung wurde ausgelotet und transparent gemacht. Ein neuer Gesellschaftsvertrag und eine Geschäftsordnung werden diese neue Struktur festschreiben.
• Zwischen den Gesellschafternherrscht ein fruchtbares, vertrauensvolles und sehr kooperatives Arbeitsverhältnis.
• Der Geschäftsführer, Andreas Hoffmann, lässt sich nicht von Kritikern irritieren, sondern verfolgt sein Konzept ruhig, unaufgeregt und konsequent.
Diese drei Umstände haben es möglich gemacht, dass der Aufsichtsrat auf Empfehlung der Geschäftsführung am 3.Juli die einstimmig berufene, sechsköpfige Findungskommission bekannt geben konnte.
Internationalität und Diversität
Jedes einzelne Mitglied der neuen Findungskommission widerlegt die in den letzten Monaten immer wieder geäußerte Befürchtung, es würden sich keine international renommierten Kuratorenpersönlichkeiten finden. Das stimmt hoffnungsvoll.
Die „hochkarätige“ Findungskommission ist breit aufgestellt. Die Mitglieder kommen aus allen Kontinenten außer Australien. Die Beteiligten stehen mit ihrer ausgewiesenen Expertise und der Vielfalt ihrer Hintergründe in besonderer Weise für die Internationalität und Diversität. Mit ihrem Engagement in der Findungskommission beweisen sie ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein für die zeitgenössische Kunst und die documenta in dieser ganz besonderen Zeit.
Die multiperspektivische fachliche Zusammensetzung der neuen Findungskommission wird zu einem zukunftsweisenden Vorschlag für die Künstlerische Leitung der documenta 16 führen. Damit ist der Grundstein dafür gelegt, dass die internationale Kunstwelt wieder gewohnter und willkommener Gast in Kassel sein wird.
Ob der vorgesehene Zeitplan eingehalten werden kann, wird sich herausstellen. Sicher ist aber, dass weder Gesellschafter noch Geschäftsführung sich durch Termindruck leiten lassen werden. Der Termin der kommenden Weltkunstausstellung ist „nicht in Stein gemeißelt“ –es geht um eine erfolgreiche documenta.
Nun lassen wir die Findungskommission ihre Arbeit verrichten, setzen unser Vertrauen in sie und freuen uns auf die documenta 16. Sie wird stattfinden und das internationale Publikum wieder nach Kassel reisen.
30.08.2024
Dr. Eva M. Schulz-Jander
geb. in Deutschland, aufgewachsen in Texas, Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in Houston, Montpellier und Berkeley; seit 1967 wieder in Deutschland, aktiv im interreligiösen Dialog, Dozentin für Englisch, lebt und arbeitet in Kassel.
Dieser Debattenbeitrag erschien am 28.8.2024 erstmals im StadtZeit Kassel Magazin.
Die documenta Debatte komplett in der StadtZeit-Ausgabe 121, Herbst 2024 zu lesen ab Seite 57
>> hier zu lesen
mittendrin dokumentiert die vom StadtZeit Kassel Magazin angestoßene Debatte zur Zukunft der Weltkunstausstellung.
Meinung von Prof. Dr. Andreas Hoffmann, Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH lesen Sie >> hier
Meinung von Dr. Wendelin Göbel, Initiator der Petition DOCUMENTA fifteen: Danke! lesen Sie >> hier
Meinung von Dr. Harald Kimpel, Kunstwissenschaftler, Autor und Kurator lesen Sie >> hier
Meinung von Lutz Freyer, Künstler und Kurator lesen Sie >> hier
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Meinung von Dr. Sven Schoeller, Oberbürgermeister der Stadt Kassel sowie Aufsichtsratsvorsitzender der documenta und Museum Fridericianum gGmbH lesen Sie >> hier
Meinung von Timon Gremmels, Politiker und Politikwissenschaftler, seit 2024 Hessischer Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur >> hier